Das Rätsel der Fatima
über ihre »Reise« nicht aufgeregt hatte, weshalb sie sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie nach Hause kommen würde oder weshalb sie überhaupt hier gelandet war. Weshalb sie die Gespräche mit Maffeo immer vor sich hergeschoben und ihn nicht mehr bedrängt hatte, noch mehr von seinem Wissen über den Stein der Fatima zu verraten. Dieses Ereignis war eine willkommene Gelegenheit, vor den Fragen und Problemen, die zu Hause auf sie warteten, zu flüchten. Statt sich zu kümmern und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, hatte sie die ganze Zeit über den Kopf in den Sand gesteckt, voller Dankbarkeit für die Ablenkung. Sie wusste ja noch nicht einmal genau, wie lange sie schon hier war. Ein paar Wochen waren es mindestens. Und während dieser ganzen Zeit hatte sie nichts dazu beigetragen, um das Geheimnis des Steins zu enträtseln. Gar nichts!
Sie war so entsetzt über diese plötzliche Erkenntnis, dass sie beinahe mit Dschinkim zusammengestoßen wäre, der unbeweglich wie eine Statue auf seinem herrlichen schwarzen Hengst saß und in die Richtung starrte, aus der sie gekommen waren.
»Verzeihung!«, rief Beatrice aus, als sie ihre Stute im letzten Moment zügelte. »Ich war so in Gedanken…«
Dschinkim blickte sie an, als ob auch er sie erst in diesem Moment bemerkt hätte. Er schien so abwesend zu sein, dass er offensichtlich sogar vergessen hatte, grimmig auszusehen. Ohne die zornigen Falten zwischen den Augenbrauen schaute er sogar recht gut aus, wie Beatrice überrascht feststellte.
»Sieh nur, da vorne«, sagte er und deutete nach Westen, wo die Kuppeln der Türme und die Mauern in der Morgensonne glänzten, als wären sie mit Gold eingefasste Juwelen. »Dort am Horizont kannst du die Türme von Shangdou sehen.«
Sie waren höchstens eine Stunde unterwegs und hatten doch schon eine weite Strecke zurückgelegt. Lediglich der Lage Shangdous in einem breiten Tal war es zu verdanken, dass sie die Stadt überhaupt noch sahen. Eine halbe Wegstunde weiter, und von Shangdou wäre nichts mehr auszumachen. Völlig verzaubert von dem Anblick, der sich ihr bot, betrachtete Beatrice die unter ihnen im Tal liegende Stadt stumm vor Staunen.
Durch eine Laune des Lichts wirkten die Mauern, die Türme und Kuppeln fast durchsichtig. Aber vielleicht war dieser Effekt von den Baumeistern beabsichtigt. Die Stadt glitzerte und funkelte in der Sonne, als wäre sie nicht aus weißem Marmor und hellem Sandstein, sondern aus kostbarem geschliffenen Kristall gefertigt worden, nicht von gewöhnlichen Menschen, sondern von Feen, Geistern und Elfen, deren Zauber die Gebäude zusammenhielt. Endlich verstand Beatrice, weshalb Shangdou den Beinamen »Kristallpalast« trug. Und weshalb in späteren Jahrhunderten daraus das sagenumwobene »Xanadu« werden würde. Wenn es auf dieser Welt einen Ort gab, an dem Träume und Märchen wahr werden könnten, so war das hier.
»Und das alles will Khubilai aufgeben«, sagte Dschinkim leise.
»Aufgeben?«, fragte Beatrice, der nicht ganz klar war, ob Dschinkim mit ihr oder mit sich selbst sprach. »Was meinst du damit? Was wird mit Shangdou geschehen?«
»Das wissen wohl nur die Götter allein«, antwortete er und seufzte. »Khubilai sagt, er wird im Sommer zurückkehren, um die warme Jahreszeit hier zu genießen, aber ich glaube es nicht.«
Natürlich nicht, dachte Beatrice. Dschinkim war schließlich durch und durch Pessimist.
»Und wieso nicht?«
»Ich fühle es.« Er seufzte wieder. »Shangdou wird sterben.«
Und plötzlich, für einen kurzen Moment, sah Beatrice mit Dschinkims Augen. Sie sah, wie die Gänge und Flure, die Plätze und Häuser verwaist dalagen, ungeschützt dem Wind und dem Wandel der Jahreszeiten ausgeliefert. Mit der Zeit würden die Fenster zerbrechen, das Mauerwerk würde bröckeln, der Wind würde durch die leeren Räume wehen, und nur Kaninchen, Mäuse und Füchse würden im Schutz der Mauern Unterschlupf suchen. Mehr und mehr würde die Pracht und Schönheit des Kristallpalastes verfallen, bis nichts von alldem übrig blieb außer Staub und ein paar Marmorblöcke, die verloren und einsam in der Weite der Steppe verstreut waren. Beatrice zog fröstelnd den Kragen ihres Mantels enger um den Hals.
»Sieh noch einmal genau hin und präge es dir ein«, sagte Dschinkim. Seine Stimme klang seltsam heiser, und Beatrice glaubte, in seinen grünen Augen Tränen schimmern zu sehen. »Bewahre diesen Anblick in deinem Herzen, damit du deinen Kindern und
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