Das Rätsel der Fatima
Enkelkindern davon erzählen kannst. Denn wir sind die letzten Menschen, die Shangdou in all seiner Pracht und Schönheit sehen.«
Beatrice kämpfte mit den Tränen. Sie saß regungslos auf ihrem Pferd und starrte wie gebannt auf die sterbende Stadt, die zu ihren Füßen lag. Sie merkte nicht einmal, dass Dschinkim irgendwann weiterritt. Erst Marcos Stimme riss sie wieder aus ihren Gedanken.
»Beatrice, da seid Ihr ja!«, rief er und ritt im Galopp auf sie zu. »Mein Onkel schickt mich. Er macht sich Sorgen um Euch und lässt nach Euch suchen. Die ganze Karawane ist bereits in Aufruhr. Was macht Ihr hier?«
Beatrice blickte ihn an. Sie sah sein hübsches Gesicht, das charmante, etwas verwegene Lächeln, doch sie sah auch seine Augen – schöne, aber kalte Augen. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie ihm nichts von ihrer Trauer um eine sterbende Stadt erzählen konnte. Marco würde sie nicht verstehen.
»Nichts«, sagte sie. »Ich habe wohl vor mich hin geträumt und darüber alles andere vergessen. Verzeiht, ich wollte Euch keinen Ärger bereiten.«
»Nach Euch zu suchen wird mir stets eine Freude sein«, erwiderte Marco und deutete auf seinem Pferd eine Verbeugung an. »Aber nun werde ich Euch zu meinem Onkel zurückbringen, bevor er die ganze Karawane aus lauter Angst um Euch umkehren lässt.«
Beatrice schnalzte mit der Zunge und gab ihrer Stute einen leichten Tritt in die Flanken. Hinter ihr im Tal lag Shangdou. Doch Beatrice hatte das Gefühl, dass sie zwischen den Marmorsäulen auch einen Teil ihres eigenen Lebens zurückließ.
Am Abend, kurz bevor die Sonne unterging, machten sie Rast. Sie hatten gerade ein breites, von sanften Hügeln umgebenes Tal erreicht, das für alle genügend Platz bot. Es gab ausreichend Gras für die Tiere, und ein lebhafter Bach spendete klares, kühles Wasser. Innerhalb kurzer Zeit waren Hunderte von Zelten am Rande des Ufers aufgebaut. Überall brannten Feuer, über denen riesige Kessel mit Suppe hingen. Beatrice war überrascht, mit welcher Ordnung und Disziplin die als wild und chaotisch verschrienen Mongolen das Lager innerhalb kürzester Zeit aufgebaut hatten. Immerhin waren mehrere hundert Menschen mit Pferden und Wagen unterwegs.
Beatrice saß mit Maffeo in einem Zelt und löffelte den heißen, köstlich schmeckenden Eintopf, den Maffeo von einem der Gemeinschaftsfeuer für sie geholt hatte. Sie versuchte, Ming zu ignorieren, die mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln ihr direkt gegenübersaß und keinen Zweifel daran ließ, dass sowohl diese Unterkunft als auch das einfache Essen ganz und gar unter ihrer Würde als Chinesin waren. Beatrice ärgerte sich über die Alte. Das runde, kuppelartige Zelt war zwar schlicht, keine Teppiche schmückten die Wände, und nirgendwo gab es überflüssigen oder gar luxuriösen Zierrat, aber die aus Leder gefertigte Außenwand war so wind- und kältegeschützt, wie man es sich bei den Temperaturen dort draußen nur wünschen konnte. Und auf dem Boden lagen mit weichen Fellen und warmen Decken umhüllte Polster. Gut, es war keine Fünf-Sterne-Unterkunft, doch dies auf einer Reise im Mittelalter zu erwarten war wohl mehr als vermessen.
Ming murmelte leise vor sich hin. Es war Chinesisch, doch brauchte Beatrice keine Übersetzung. Dass die Alte über die ungebildeten Mongolen schimpfte, verstand sie auch so. Sie warf Maffeo einen Seitenblick zu. Er saß über seine Schüssel gebeugt und löffelte die Suppe, als würde er die Worte seiner Dienerin nicht hören. Vielleicht hörte er sie tatsächlich nicht. Oder er war mittlerweile so abgestumpft und unempfindlich gegen die Bosheiten der Alten geworden, dass sie einfach an ihm abprallten. Beatrice war noch nicht so weit. Und schließlich konnte sie es nicht länger ertragen.
»Halt endlich deinen Mund, Ming!«, sagte sie. »Die wahre Bildung eines Volkes besteht in der Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Völkern und ihrer Kultur. Darüber solltest du vielleicht nachdenken, bevor du das nächste Mal über die Mongolen herziehst. Denn sollten alle Chinesen so arrogant und sturköpfig sein wie du, seid ihr nach dieser Definition hoffnungslos rückständig.«
Mings Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und für einen kurzen Moment fürchtete Beatrice, die Alte würde ihr gleich ins Gesicht springen, um ihr die Augen auszukratzen. Doch die Chinesin blieb sitzen.
»Bald werdet Ihr sehen!«, zischte sie. »Bald sind wir in Taitu. Dort werdet Ihr sehen, wer das stärkere Volk
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