Das Rätsel der Fatima
versteckt in den Bergen gelegenen Kloster haben sie ihn aufbewahrt. Dort hat er geruht, verborgen vor den Augen der Welt, sicher vor der Habgier, die immer wieder Abenteurer, Schurken und Diebe auf die Suche nach dem Stein der Fatima trieb.«
»Entschuldige bitte, dass ich so unverschämt frage, aber weshalb hast ausgerechnet du den Stein von diesem Lama erhalten? Ich meine, du bist kein Lama, du bist noch nicht einmal Buddhist. Du bist ein Europäer, der einfach nur zufällig auf der Durchreise war.«
»Glaube mir, auch ich habe mich das gefragt. Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Warum ich? Weshalb muss ausgerechnet ich diese Bürde tragen?« Maffeo lächelte. »Anfangs glaubte ich, Phagspa gab mir den Stein, damit ich ihn Khubilai überreiche. Der Khan war einst Phagspas Schüler.
Der Lama muss seine Vision von einem friedlichen, alle Völker umfassenden Reich gekannt haben. Außerdem ist Khubilai seit jeher auf der Suche nach religiösen und magischen Artefakten aller Kulturen. Als wir hierher kamen, brachten wir zum Beispiel Öl vom Grabe unseres Herrn Jesus Christus mit. Ich dachte anfangs, der Stein sollte Khubilais Sammlung vervollständigen. Aber als wir dann Shangdou erreichten, hatte ich einen Traum. Und in diesem Traum wurde mir gesagt, dass ich den Stein verborgen halten solle, versteckt an einem sicheren Ort. Ich habe diesem Traum gehorcht. Und manchmal frage ich mich, ob Phagspa nicht ebenfalls einen Traum hatte. Einen Traum, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er mir den Stein anvertrauen soll. Mir kam auch schon der Gedanke, ob nicht vielleicht der Stein selbst seine Hüter erwählt.«
Mittlerweile hatten sie das Tor erreicht. Der riesige Platz war angefüllt mit Pferden und zweirädrigen, von Ochsen gezogenen Karren, Menschen liefen und schrien durcheinander, Soldaten ritten umher und kontrollierten, ob alle marschbereit waren. Beatrice zog ihren warmen, mit weichem Fuchspelz gefütterten Mantel enger um sich. Sie wusste nicht, was sie mehr erschauern ließ, die eisige Kälte, die ihr hier auf dem Platz entgegenschlug, oder die Vorstellung von der Macht, die in diesem walnussgroßen Stück Edelstein wohnte, das in einem kleinen Lederbeutel um ihren Hals hing. Sollte die Legende recht haben und tatsächlich viele Bruchstücke des Auges der Fatima existieren, und sollte es wirklich gelingen, diese Teile irgendwann in ferner Zukunft alle wieder zusammenzufügen – was würde dann geschehen? Welche unvorstellbare Macht würde das vollständige Auge besitzen? Und wer würde diese Macht auf welche Art nutzen? Der Traum vom Frieden zwischen den Muslimen und den anderen Parteien im Nahen Osten war schön. Aber die Erfahrung zeigte, dass die Menschen dazu nicht fähig waren. Und daran konnte sicherlich auch der Stein der Fatima nichts ändern.
»Dort drüben stehen unsere Pferde«, sagte Maffeo und riss Beatrice aus ihren Gedanken. »Kannst du reiten, oder möchtest du lieber in einem der Wagen mit Ming oder den anderen Frauen mitfahren? Oder soll ich dir eine Sänfte besorgen?«
Die Vorstellung, mit vielen anderen zusammengepfercht auf einem holprigen Karren zu sitzen – womöglich noch Ming direkt neben sich –, war Beatrice ein Gräuel. Sie wollte allein sein und nachdenken. Stoff genug hatte sie dafür. In einer Sänfte wäre sie zwar allein, aber schon der Gedanke an das sanfte, nie enden wollende Geschaukel verursachte ihr Übelkeit.
»Ich möchte reiten«, antwortete sie. »Und sollte es mich zu sehr anstrengen, habe ich ja immer noch die Möglichkeit, auf einen der Wagen umzusteigen.«
Maffeo nickte, führte Beatrice zu einer kleinen lebhaften Fuchsstute und half ihr in den Sattel. Dieser hatte eine erstaunlich hohe Lehne und machte nicht nur einen ungewohnten, fremdartigen, sondern auch unbequemen Eindruck.
Da werde ich heute Abend wohl heftige Rückenschmerzen haben, dachte Beatrice und rutschte auf dem Pferderücken hin und her, um eine Position zu finden, in der sie die Sattellehne nicht so deutlich im Kreuz spürte.
Sie hatte gerade eine einigermaßen bequeme Sitzhaltung eingenommen, als ein durchdringender Pfiff ertönte. Wie ein Staffelholz wurde er von Soldat zu Soldat weitergegeben. Es war das Zeichen zum Aufbruch. Pferde und Wagen setzten sich in Bewegung, ein gewaltiger, unüberschaubarer Zug von mindestens einem Kilometer Länge. Und Beatrice fragte sich, wer den Überblick darüber behielt, dass dies wirklich alle Untertanen und Besitztümer des großen Khans
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