Das Rätsel der Fatima
Marco geblieben war. In ihm hatte sie wenigstens einen angenehmen, ansehnlichen Gesprächspartner, mit dem die Zeit sicherlich schnell vergangen wäre. Hier hingegen konnte sie nichts weiter tun, als auf dem Bett herumzusitzen und sich tödlich zu langweilen.
Nun ja, dachte sie missmutig, auch das wirst du überleben. Schließlich ist das nicht deine erste Fehlentscheidung.
10
Zwei Tage später war es schließlich so weit. Alles war zusammengepackt, die Räume und Gänge des Palastes sahen aus wie leer gefegt. Die kostbaren Truhen und Schränke, die Statuen und kleinen Figuren, die überall herumgestanden hatten, waren in Decken eingeschlagen und auf Karren verladen. Die Wände waren kahl. Jedes einzelne Bild war zusammengerollt, in Bambusrohre gesteckt und in Kisten gepackt worden. Sogar die eisernen Kohlebecken fehlten. Vereinzelt hasteten noch Diener mit Truhen und Körben durch die Gänge – die letzten Gepäckstücke, vollgestopft mit Geschirr, Bettwäsche, Kleidungsstücken und all den anderen Dingen, die bis zum Schluss noch gebraucht worden waren.
Beatrice ging langsam mit Maffeo den Gang zum Tor entlang, reisefertig in warme, mit Pelz gefütterte Winterkleidung gehüllt. Mit ihrem dicken Bauch kam sie sich in dieser Kleidung vor wie ein unförmiger, unbeweglicher Marshmallow-Mann.
»Es ist seltsam«, sagte sie zu Maffeo. »Ich bin noch nicht lange hier, die meiste Zeit davon habe ich nur in meinem Quartier verbracht, ich kenne diese Stadt eigentlich gar nicht, und trotzdem fällt es mir jetzt schwer, sie zu verlassen.«
Maffeo legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Sei nicht traurig. Belaste dein Herz nicht mit dem, was vergangen ist. Dem Alten folgt immer das Neue, so wie dem Winter der Frühling. Shangdou ist schön, aber das ist auch Taitu. Und letztlich wird es dort nicht anders sein als hier. Wir werden essen, schlafen, uns streiten und wieder versöhnen. Die Intrigen werden weitergesponnen, der Kampf um das Reich setzt sich fort. Im Grunde wird sich nichts verändern, nur die äußere Hülle wird eine andere sein. Wie eine Schlange häutet sich Khubilais Hofstaat, wird größer, vielleicht auch mächtiger. Trotzdem bleibt die Schlange immer noch dieselbe.«
Beatrice dachte eine Weile nach. Maffeo hatte recht, im Grunde änderte sich wirklich nicht viel, aber trotzdem…
»Ich habe das Gefühl, dass ich Shangdou nie Wiedersehen werde«, sagte sie leise.
Maffeo nickte. »Ja, das ist sehr gut möglich«, entgegnete er ernst. »Denn vergiss nicht, weshalb du hier bist. Der Stein der Fatima hat dich hierher geführt. Er wird dich auch wieder nach Hause bringen.«
»Und wann?«, fragte Beatrice und wusste in diesem Augenblick wirklich nicht, ob sie diesen Moment herbeisehnte oder ob sie sich davor fürchtete. Es gab Tage, an denen sie unter Heimweh litt, an denen sie sich nach ihrer Familie, ihren Freunden, den Kollegen und der Arbeit sehnte, nach den Errungenschaften der Zivilisation wie Radio und Fernsehen, nach Musik von den Doors und Bon Jovi, nach Pommes und Cola und nach ihren Lieblingszeitschriften. Aber meistens, wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor, zurückzukehren. Wenn sie eines Tages wieder in Hamburg war, würde sie bald Mutter werden, und ihr Leben würde sich so nachhaltig ändern, wie es nicht einmal diese Zeitreisen vermochten. Wenn sie daran dachte, bekam sie Angst. Sie hatte Zweifel, ob es ihr gelingen würde, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
»Niemand weiß es so genau. Es kommt darauf an, wann du deine Aufgabe erfüllt hast. Doch meistens dauert es weniger als ein Jahr.«
»Woher weißt du das?«, fragte Beatrice. »Wie oft hat dich der Stein bereits…«
»Nicht oft. Zweimal bin ich bisher gereist, und niemals so weit wie du. Aber mein Lehrer, Lama Phagspa, hat sein Wissen an mich weitergegeben. Es war vor ziemlich genau sieben Jahren. Wir waren auf der Reise zu Khubilai Khan und kamen kurz vor Einbruch des Winters in den Bergen an. Lama Phagspa hat uns eingeladen, den Winter im Schutz seines Klosters zu verbringen. Und während dieser Zeit hat er mir den Stein der Fatima anvertraut.« Maffeo lächelte in sich hinein. »Ihn selbst hat der Stein viele Male auf die Reise geschickt, und die Hüter vor ihm ebenso.«
»Die Hüter vor ihm?«, fragte Beatrice. »Was meinst du damit?«
»Seine Vorgänger«, antwortete Maffeo. »Seit mehr als sechshundert Jahren wird der Stein weitergegeben, immer von einem Lama zum nächsten. In jenem
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