Das Raetsel der Liebe
aber inne, zog ihren kleinen Arm zurück und drückte es fest an die Brust.
»Ich … eigentlich genügt mir im Moment, was ich schon weiß. Es wird Zeit, dass ich mit Lydia darüber spreche.«
Sie trat einen Schritt zurück. Er machte einen Schritt nach vorn.
»Glaubst du wirklich, Lydia wird dir jetzt die Wahrheit sagen?«, fragte er freundlich und zugleich herablassend. »Selbst, wenn du sie mit dem Dokument konfrontierst – sie hat überhaupt keinen Grund, dir die Wahrheit über deinen Vater zu erzählen. Bist du ganz sicher, dass mein Name dort nirgendwo steht?«
»Sehr sicher.« Janes Finger umklammerten die Urkunde.
»Darf ich nachsehen, bitte?«
»Wozu?«
»Das hier betrifft mich genauso wie dich, Jane. Ich habe ein Recht, die Geburtsurkunde meiner Tochter zu sehen.« Eine Art Nervosität schien von Dr. Cole Besitz zu ergreifen, und die Wärme in seinem Blick wich einem klaren Ausdruck von Ungeduld. »Hätte ich damals gewusst, wo deine Mutter war, dann hätte ich darauf bestanden, in die Urkunde aufgenommen zu werden.«
»Hatten Sie denn vor, sie zu heiraten?«
Sein Mund verzog sich auf eine Art, die Jane an einen sich krümmenden Regenwurm erinnerte. »Es steht dir nicht zu, mir Fragen zu stellen, die meine Beziehung zu Lydia betreffen.«
»Es ist mein Recht, die Wahrheit über meine Eltern zu erfahren.« Jane wünschte, sie könnte irgendwie glauben, die Wahrheit wäre eine andere. Dass Dr. Cole in Wirklichkeit doch nicht ihr Vater war. Dass nichts passiert wäre zwischen ihm und Lydia. Nichts Schreckliches.
In der vagen Hoffnung, einer der Arbeiter oder Kuratoren sei in der Nähe, blickte sie sich um. Doch da war niemand, und ihr Blick auf den Rest der Ausstellung wurde von einer großen Vitrine verdeckt.
Jane wandte sich wieder Dr. Cole zu. Dessen Gesicht hatte einen verkniffenen Ausdruck angenommen, und das heftige Pulsieren einer Ader an seinem Hals verriet zunehmende Verärgerung.
»Gib mir die Urkunde, Jane.«
Sie schüttelte den Kopf. Furcht packte ihr kleines Herz. Sie wusste nicht, warum er so darauf versessen war, das Dokument in seinen Besitz zu bringen, hatte aber den Verdacht, dass sie es niemals wiedersehen würde, wenn sie es ihm gab.
Mit zwei raschen, langen Schritten war er bei ihr, um es ihr aus den Händen zu reißen. Die Schnelligkeit der Bewegung glich der einer Schlange. Jane konnte das Papier gerade noch wegziehen, bevor er es zu fassen bekam. Sie steckte es zurück in die Tasche, drehte sich um und rannte weg, so schnell sie konnte. Ein tiefer, kehliger Fluch dröhnte ihr nach.
An ihm vorbeizulaufen, traute sie sich nicht, also rannte sie auf die enge Hintertreppe zu, die auf die Galerie führte. Als sie an der Abteilung für Naturgeschichte vorbeikam, duckte sie sich kurz hinter ein Diorama mit ausgestopften Vögeln, riss die Urkunde aus der Tasche und steckte sie hinter die ausgebreiteten Schwingen eines Adlers. Dann lief sie weiter Richtung Galerie. Sie wollte zu den Treppen auf der anderen Seite gelangen, die zurück in die Haupthalle führten.
Der Rundgang quoll geradezu über vor verglasten Ausstellungsregalen, Vitrinen, Tischen und Bücherschränken. Während Jane sich zwischen all diesen Gegenständen einen Weg bahnte, versuchte sie, über das Geländer zu sehen, um Mr Hall zu finden, doch er war nirgendwo zu entdecken.
Panik stieg in ihr hoch. Falls er schon nach Hause gegangen war … nein. Mr Hall würde niemals ohne sie gehen.
Jane lief schneller, ohne sich umzusehen, denn das traute sie sich nicht. Jetzt musste sie einen Tisch umrunden, auf dem sich Berge zusammengerollter Landkarten türmten. Sie hatte etwa die Hälfte des Weges geschafft, da blieb ihr Fuß an irgendetwas hängen. Sie schlug der Länge nach hin und keuchte auf. Ein spitzer Schmerz schoss durch ihr rechtes Handgelenk, als sie instinktiv versuchte, den Sturz mit den Händen abzufangen.
Weiter. Weiter.
Kaum hatte sie sich angstvoll schluchzend wieder hochgerappelt, da fiel der Schatten eines Mannes auf sie, und lange, schmale Finger schlossen sich so fest um ihren Arm, dass es schmerzte. Dann zischte Dr. Cole zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Törichtes Ding.«
Jane versuchte zu schreien, doch kein Laut verließ ihren Mund, bevor er seine große Hand auf ihre Lippen presste.
27
Alexander fuhr zusammen und trat einen Schritt zurück. Eine Woge neuerlichen, rohen Schmerzes brandete durch Lydia. Obwohl sie es vermied, ihn anzusehen, spürte sie doch den Schock, der ihn
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