Das Raetsel der Liebe
bewegungslos verharren ließ.
»Deine … deine Tochter?«
Lydia nickte. Sie war auf merkwürdige Art erleichtert darüber, ihm endlich die Wahrheit gestanden zu haben. Wie immer seine Reaktion auch ausfallen mochte, zumindest musste sie jetzt die schwere Last dieses Geheimnisses nicht mehr allein mit sich herumtragen.
»Aber Jane ist schon –«
»Elf. Sie wurde geboren, als ich knapp siebzehn war.«
Sie hob ganz leicht die Wimpern, um einen verstohlenen Blick auf ihn zu riskieren. Er stand immer noch reglos da, die Fäuste in die Seiten gestemmt, die Miene unbewegt.
»Erzähl es mir«, befahl er.
»Es ist keine angenehme Geschichte.« Sie schwieg einen Moment. »Ganz im Gegenteil.«
»Das ist mir egal. Was ist passiert? Ist
er
Janes Vater?«
»Ja.« Ihre Finger knüllten den Brief.
»Er hat doch nicht … hat er etwa …« Alexander schluckte und ballte die Fäuste noch fester zusammen.
»Nein. Nein.« Unter der Decke von Angst glomm Scham in Lydia auf. Sie versuchte, das Gefühl im Zaum zu halten. Sie wusste, sie war ihm jetzt die ganze Geschichte schuldig, mit all ihren schmutzigen Details. »Es … es war ein … ein Fehler, Alexander. Ein abgrundtiefer, entsetzlicher Fehler, aber es geschah nicht gegen meinen Willen. Und ich verspreche dir, ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, aber zuerst muss ich mit Jane sprechen. Bitte. Ich … ich dachte, er würde uns niemals finden. Ich weiß nicht, ob er versucht hat, Kontakt mit ihr aufzunehmen, ob er …«
Ihre Stimme brach angesichts der Möglichkeit, dass das Entsetzliche, Unaussprechliche tatsächlich bereits geschehen sein könnte. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Wie durch einen Schleier spürte sie, wie sich hinter Alexanders Schweigen Zorn aufbaute.
»Wo, sagte Mrs Driscoll, ist sie hingegangen?«, fragte er schließlich.
»Zu ihrer Klavierstunde. Mit meiner Großmutter.« Lydia wischte sich den Schweiß von der Schläfe. »Es … ich muss sehr, sehr dringend mit ihr sprechen – jetzt weißt du den Grund, warum ich das Medaillon unbedingt zurückhaben musste. Das Ganze …«
»Ich werde sie abholen. Du wartest hier. Ich wünsche nicht, dass es im Haus meines Vaters eine Szene gibt.«
Er drehte sich um und ging. Lydia starrte die Tür an, die er hinter sich geschlossen hatte. Eine Schweißperle rann ihren Hals hinunter und schlüpfte unter ihren engen Kragen.
Sie ging nach oben in ihr Zimmer, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und richtete ihre Frisur. Nervosität wand sich wie ein großes Knäuel in ihrem Magen zusammen. Sie ging den Flur hinunter und in den Unterrichtsraum, wo sie mit Jane so viele gemeinsame Stunden verbracht hatte.
Überall waren Janes Habseligkeiten und Kreationen verstreut – Bilder, Puppen, Spielzeug, Zeichnungen, eine Weltkugel, Bücher, Häkelarbeiten und Stickmuster.
Lydia nahm eine alte Lumpenpuppe zur Hand, die Jane vor langer Zeit von Sir Henry zu Weihnachten bekommen hatte. Die Puppe starrte sie aus einem blicklosen Auge an. Das andere fehlte, und die Wollfäden, die den Mund bildeten, waren schon ganz zerfasert.
»Lydia?«, fragte die angespannte Stimme ihrer Großmutter.
Sie wandte sich um. »Ist Jane bei dir?«
»Nein.«
Lydia zog die Augenbrauen zusammen. »Wo ist Alexander?«
»Ich weiß es nicht. Was geht hier vor, Lydia?«
»Er ist losgefahren, um Jane vom Klavierunterricht abzuholen«, erwiderte Lydia. »Hast du sie denn nicht hingebracht?«
»Ja, aber nach der Stunde hat sie mit Mr Hall noch einen kleinen Ausflug gemacht.«
Lydia setzte die Puppe ab und begann einen Stapel Blätter durchzusehen, die auf dem Tisch lagen. Da waren Schreibproben von Jane, verschiedene Zeichnungen, ein angefangener Aufsatz über Glühwürmchen. Als sie die Seiten mehrerer aufgeschlagener Bücher glättete, um sie ins Regal zurückzustellen, flatterte ein zerknittertes Stück Papier zu Boden. Lydia bückte sich und hob es auf.
Sie wollte es eben zusammenfalten und unter den Buchumschlag zurückstecken, aus dem es herausgefallen war, als sie plötzlich innehielt. Einen Teil des Blattes bedeckten mit schwarzer Tinte geschriebene Buchstaben wie ein Spinnennetz. Bangen Herzens strich sie die Seite glatt.
Die akkurate Handschrift verschwamm vor ihren Augen, als eine Welle des Nicht-glauben-Könnens über sie hinwegspülte. Ihr wurde schwindelig.
Nein. Nein nein nein nein nein nein nein …
»Lydia, was ist denn los?«, fragte ihre Großmutter mit lauter, besorgter Stimme. Dann straffte
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