Das Raetsel der Liebe
mit getrockneten Pflanzen, Tierknochen und zahlreichen anderen Objekten aufgereiht. Auf den Tischen standen große Glasschaukästen voller Insekten – Schmetterlinge mit aufgespannten Flügeln und Käfer mit schimmernden Chitinpanzern. Sie griff nach einer Flasche mit den toten Körpern verschiedener Stabschrecken.
Bei ihrem Anblick drehte sich Jane der Magen um, und sie stellte das Gefäß schnell wieder zurück. Dann sah sie kurz hinauf zu den langsam sich verdunkelnden Fenstern über dem Galerierundgang, der das obere Stockwerk umlief. Dort waren Mr Hall und Lord Castleford mit letzten Arbeiten an der chinesischen Vitrine beschäftigt. Sie hatte die beiden um Erlaubnis gebeten, sich etwas umsehen zu dürfen und versprochen, in einer halben Stunde wieder zurück zu sein.
Jane atmete hörbar aus. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Dr. Cole finden sollte, falls er überhaupt hier war. Unschlüssig betrachtete sie einen Schaukasten mit Heuschrecken und Seidenraupen. Ein Schauer durchlief sie. So interessant sie Insekten auch fand – die Tiere tot unter Glas zu sehen, die filigranen Körper aufgespießt mit Nadeln, war ihr zuwider.
Sie entfernte sich von den Schaukästen und ging hinüber zu einer Abteilung unterhalb der Galerie, wo mindestens zwei Dutzend Standglobusse, die Himmel und Erde darstellten, kunstvoll neben einer Vitrine arrangiert waren, welche diverse Taschenglobusse enthielt. Jane drehte eine der großen Himmelskugeln und studierte die darauf abgebildeten Sternenkonstellationen, die mit mythischen Figuren und Tieren unterlegt waren.
Ein anderer Himmelsglobus bestand aus schwerem Glas und war zusammen mit einer Gradskala aus Messing auf einem enorm großen gusseisernen Standfuß befestigt. Der Glaskörper war durchsichtig und zur Hälfte mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt. In seine Oberfläche waren Sterne sowie Längen- und Breitengrade eingraviert. Jane legte beide Hände an die große Kugel, drehte sie leicht um die Mittelachse und sah zu, wie die blaue Flüssigkeit hin und her schwappte.
»Hallo, Jane.«
Die tiefe, kultiviert klingende Männerstimme ließ sie erschauern. Ihr kleines Herz schlug schneller. Erschrocken drehte sie sich um. An der hinteren Treppe stand ein großer, schlanker Mann, dessen Augen hinter dem Spiegel seiner Brillengläser nicht zu erkennen waren.
Sie schluckte. »Sie … Sie sind gekommen.«
»Selbstverständlich. Das war doch abgemacht.« Er ging auf sie zu. Das Licht glitt von ihm weg, und zum Vorschein kamen freundlich blickende grüne Augen in einem scharf geschnittenen Gesicht mit Adlernase. »Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen. Obwohl ich, offen gestanden, das Gefühl habe, dass wir uns schon einmal begegnet sind. Als ob wir uns schon kennen würden.«
Jane lächelte. Jetzt, da sie den Kommentaren und Rätseln in den Briefen endlich ein Gesicht zuordnen konnte, ließ ihre Nervosität ein klein wenig nach. Er sah genauso aus, wie er schrieb – elegant, klar, gebildet. Sein Haar schien blond zu sein, obwohl es im Zwielicht dunkler wirkte. Auf seiner Stirn lag eine einzelne Locke wie ein Komma.
Er trat noch ein Stück näher, bis er auf der anderen Seite der Himmelskugel stand. »Deine letzten Briefe haben mir ein klein wenig Sorge bereitet«, sagte er. »Offenbar ist etwas geschehen, das dich sehr aufregt. Ich nehme an, es hat etwas mit dem Dokument zu tun, das du erwähntest?«
Jane nickte, und ihre zitternde kleine Hand fuhr instinktiv zu der Stelle in ihrem Rock, wo zusammengefaltet in einer Tasche die Geburtsurkunde steckte. Verstohlen blickte sie zu Dr. Cole. Er sah sie immer noch an, den Mund zu einem beinah unsichtbaren Lächeln verzogen, die Augen freundlich und neugierig.
»Du hattest keine Ahnung?«
In Janes Kehle bildete sich ein dicker Klumpen. Sie schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte sie von rein gar nichts irgendeine Ahnung gehabt. Erst recht nicht davon, dass all die Menschen, die sie so sehr liebte, gelogen hatten, was sie betraf.
Sie
belogen hatten.
Die Leere in ihrer kleinen Brust weitete sich zu einer riesigen, gähnenden Schlucht. Sie starrte auf den Globus und die kunstvoll in das dicke Glas eingravierten Sterne.
»Warum haben Sie es mir nicht gesagt?«
»Weil ich fürchtete, du würdest mir nicht mehr schreiben, wenn ich das täte. Und außerdem, so muss ich gestehen, dachte ich, du würdest mir nicht glauben.« Er schwieg einen Augenblick. »Hättest du mir denn geglaubt?«
Wieder schüttelte Jane den Kopf.
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