Das Raetsel der Liebe
wieder auf Cole zu richten. »Warum tun Sie das, Dr. Cole?«
Er sah sie mit diesem klaren, eulenhaften Blick an, der imstande zu sein schien, bis in die tiefsten Tiefen ihres Geistes vorzudringen.
»Ich habe alles verloren, Lydia. Zuerst meine Stellung an der Universität. Es gelang mir nicht, eine andere Arbeit zu finden, um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Und dann ist Greta … du weißt, wie schwach sie war, wie zerbrechlich. Sie konnte der Belastung nicht standhalten, brach förmlich unter ihr zusammen. Meine ganzen Ersparnisse gingen für medizinische Behandlungen drauf. Und für die Beerdigung natürlich.«
Lydia wollte sich die Hände auf die Ohren pressen, um nichts über Gretas Tod hören zu müssen. »Warum haben Sie Ihre Professur verloren?«
Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen. »Wegen moralischer Verfehlungen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Moralischer –«
»Sie war bereits tot, als ich ankam. Leider glaubten sie mir nicht.«
Lydias Atem ging jetzt ganz flach. Galle brannte in ihrer Kehle. »Wer … wer war …«
»Die Tochter eines Geschichtsprofessors. Jammerschade. Nettes Mädchen. Keine Ahnung, mit wie vielen Männern sie es in ihrer kleinen Kammer getrieben hat.«
»Und Sie … Sie …«
»Es hieß, sie sei erwürgt worden. Sie behaupteten, ich wäre es gewesen, aber sie konnten mir die Tat nie nachweisen. Trotzdem. Die ganze Sache kam dem Bildungsminister zu Ohren, und er hielt es für einen hinreichenden Grund, mich zu entlassen.«
Irgendwo wurde eine Tür aufgestoßen. Vom unteren Stockwerk fluteten aufgeregte Stimmen zu ihnen herauf. Etwas zerbrach.
Lydia schob Jane entschlossen, jedoch möglichst unauffällig hinter sich. Sie wollte das Mädchen unbemerkt Richtung Treppe bugsieren, damit sie sich in das untere Geschoss retten könnte. Doch sie wusste nicht, ob Cole bewaffnet war.
»Das ist jetzt ein Jahr her«, fuhr Cole fort. »Dann hörte ich von Sir Henrys Tod, und du fielst mir wieder ein. Also kam ich nach London. Ich wollte wissen, ob das Kind bei dir lebt. Und als ich das mit Jane herausfand, fragte ich mich, ob sie deine Intelligenz besäße, deine erstaunlichen mathematischen Fähigkeiten. Ich dachte, mit dir als Mutter und mir als Vater könnte ihre Genialität bereits jetzt schon legendär sein. Also schrieb ich ihr.«
Bei dem Gedanken, dass er Jane zu einem Briefwechsel verführt hatte, drehte sich Lydia der Magen um. »Was wollten Sie von ihr?«
»Zuerst dachte ich, sie hätte vielleicht ein paar neue Ideen, eine andere Herangehensweise an Mathematik«, sagte Cole.
»Sie wollten ihre Talente zu Ihrem Vorteil ausnutzen?«, schnappte Lydia. »Sie dachten, Sie könnten von ihr ein paar brillante Neuigkeiten erfahren. Und dann hätten Sie sie ihr gestohlen und als Ihre eigenen veröffentlicht, in dem verzweifelten Versuch, Ihre verlorene Berühmtheit wiederherzustellen.«
Er runzelte die Stirn. »Das ist nicht ganz korrekt. Schließlich ist sie meine Tochter, also wären ihre Theorien zunächst einmal rechtmäßig meine. Stell dir meine Enttäuschung vor, als mir klar wurde, dass sie lediglich einen recht gewöhnlichen Verstand besitzt. Vergleichsweise.«
Lydia biss die Zähne zusammen, um seinen absurden Behauptungen nicht zu widersprechen. »Und was brachte Sie auf Ihren aktuellen Plan?«
»Die Nachricht vom Tod deines Vaters. Ich fand, es sei ein guter Zeitpunkt, um mit Jane in Kontakt zu treten. Und dann hörte ich von deiner … Beziehung zu einem reichen Adligen. Wenn ich schon nicht meinen Ruf zurückhaben kann, dann wenigstens einen ordentlichen Haufen Geld, um meine Enttäuschung zu lindern. Genug, um mich irgendwo anders niederzulassen, in Frankreich vielleicht oder Italien, und den Rest meiner Tage in Ruhe und Bequemlichkeit zu verbringen.«
Er will gar nicht Jane.
Lydias größte Angst, die Angst, mit der sie während der letzten zehn Jahre hatte leben müssen, ließ ein klein wenig nach. Was er wollte oder was er tat, kümmerte sie nicht im Geringsten, solange er nicht versuchte, ihr Jane wegzunehmen.
»Wenn Sie das Geld bekommen, werden Sie dann verschwinden?«, fragte sie. »Für immer?«
»Vielleicht. Doch zuerst will ich die Geburtsurkunde. Ich muss doch sicherstellen, dass ich die Situation jederzeit unter Kontrolle habe. Wenn sich dieses Dokument in meinem Besitz befindet, kann ich davon ausgehen, dass dir klar ist, dass ich Janes wahre Herkunft jederzeit beweisen kann. Erst dann habe ich echte Gewissheit, dass du dein Wort
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