Das Raetsel der Liebe
Wissen zu vermitteln. Deshalb hast du diese überragende Intelligenz mitbekommen.« Er verzog die Lippen. »Obwohl besagte Intelligenz dich anscheinend vollkommen verlassen hat, als du meinen Antrag ablehntest.«
Lydia lachte, doch es klang hohl. Sie trat ganz dicht zu ihm, und ihr Griff wurde so fest, dass er die Wärme ihrer Finger und Handflächen selbst durch den Stoff seines Mantels und Hemdes hindurch spüren konnte.
»Es tut mir leid, Alexander. Bitte glaube nicht, dass … ich habe nicht abgelehnt, weil ich dich nicht liebe.«
Alexander blieb einen Moment die Luft weg. Er starrte sie an, ihre blauen Augen, die ihn direkt ansahen, ihre geröteten Wangen, die letzten Tröpfchen glitzernder Tränen an den Spitzen ihrer Wimpern. Sein Herz hämmerte, ein seltsamer, unkoordinierter Rhythmus, der in allem Resonanz fand, was Lydia war – ihre aufreizende, sinnliche Präsenz in seinem Leben, ihr leidenschaftliches Sichhingeben, ihr Duft nach Frische und Reinheit.
»Warum dann?«, fragte er mit mühsam beherrschter Stimme.
Sie schüttelte den Kopf.
Wieder durchfuhr ihn eine Spirale von Frustration, bohrte sich in seine Seele. »Ich werde das nicht dulden, Lydia. Du hast noch eine Woche.«
»Hier geht es nicht um die Lösung eines mathematischen Problems, Alexander.«
»Nein? Aber genau solche Dinge studierst du doch! Du denkst dir Gleichungen aus, um Gefühle zu beschreiben! Liebe plus Liebe ist gleich Hochzeit, oder etwa nicht?«
Sie sog scharf die Luft ein, und ein Beben durchlief ihren Körper. Er packte sie fester und atmete tief den Duft ihres dichten Haares ein.
»Sag Ja«, flüsterte er, wobei er selbst nicht wusste, ob er damit die Hochzeit meinte oder den Vortrag oder beides.
Lydia versteifte sich. Ihre Finger krallten sich in seinen Hemdkragen. »Nein.«
Das Wort erhob sich zwischen ihnen wie eine mächtige Mauer, und in Alexander zerbrach etwas. In seinem Kopf hörte er die Worte, die sein Bruder vor Wochen gesagt hatte.
Tu, was immer dich glücklich macht. Ach nein, das wirst du ja niemals, oder?
Doch Alexander hatte es versucht. Bei Gott, er hatte es versucht.
Lydia entzog sich ihm, und er gab sie frei. Sie nahm die Bücher wieder an sich und klemmte sie in die Armbeuge. Er blickte unverwandt auf ihr Profil, den anmutigen Schwung der Wange, die vorwitzige Locke, die sich an ihrem Hals hinabringelte.
Er fühlte seine Entschlossenheit zurückkehren. Er war noch nicht am Ende. Wenn Lydia sich weiterhin weigerte, die Tatsache anzuerkennen, dass sie beide zusammengehörten, dann musste er eben einen anderen Weg finden, sie zu überzeugen. Er brauchte einen Verbündeten.
20
Die Seiten des Notizbuches waren über und über bedeckt mit Bleistiftzeichnungen, Notizen und schnell hingekritzelten Gleichungen. Lydia blätterte es durch und versuchte, genügend Energie aufzubringen, um ihre Ideen weiterzuverfolgen und Alexander zu beweisen, dass er unrecht hatte. Sie
konnte
Liebe quantifizieren. Sie
konnte
Anziehung mithilfe einer Differenzialgleichung darstellen, Muster in den intimsten Details nachweisen.
Allerdings wollte sie das jetzt gar nicht mehr.
Sie sah sich die Aufzeichnungen an, die sie über Romeo und Julia gemacht hatte, Tristan und Isolde, Lanzelot und Guinevere, Paris und Helena, Petrarca und Laura. Ihre Gleichungen hatten niemals das eine Element erfassen können, das diesen Beziehungen gemeinsam war – die Tatsache nämlich, dass keine einzige von ihnen ein gutes Ende gefunden hatte. Ungeachtet großer Leidenschaft, tiefer Gefühle und brennenden Verlangens hatte keines dieser Paare ein glückliches, erfülltes Leben zu zweit gehabt.
Also war
dr/dt = a
11
r + a
12
j
vollkommen bedeutungslos, da das Ergebnis immer dasselbe blieb: Unglücklichsein. Ganz zu schweigen von einem frühzeitigen Tod, was ebenfalls recht oft vorkam.
Ich schlage vor, Miss Kellaway, Sie werfen Ihr vermaledeites Notizbuch in den Kamin und lassen mich verdammt noch mal in Ruhe.
Ein leichtes Lächeln lag auf Lydias Lippen. Sie klappte das Notizbuch zu und starrte eine Weile in die Flammen. Dann warf sie es mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk hinein.
Das Buch klappte auf. Wie von Geisterhand blätterten sich die Seiten um, bevor das Papier Feuer fing und zu brennen begann. Ihre Aufzeichnungen, ihre Zahlen, ihre Gleichungen wurden schwarz und schrumpelten in der Hitze zusammen.
Sie sah zu, bis nur noch Asche davon übrig war. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte sie. Sie würde sich ein neues
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