Das Rätsel der Templer - Roman
sie ihren Blick nicht abwenden. Plötzlich hörte
er auf zu sprechen. Sein Kopf sank auf die Brust, und er legte die Handflächen schützend auf sein Gesicht. Plötzlich begannen
seine Schultern zu zucken. Ein leises, dunkles Schluchzen erfüllte den Raum. Der Templer weinte. Es gab keinen Zweifel. Mit
allem hatte sie gerechnet. Dass er sie umbringen könnte. Dass er die Flucht ergreifen, sie bestehlen oder ihr Mobiliar zertrümmern
würde. Ja, sogar eine Vergewaltigung hatte sie nicht ausgeschlossen.
Leise zog Hannah sich zurück. Lauschend kauerte sie in ihrem Bett. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, als sie erneut Schritte
hörte, die schleppend hinauf ins erste Stockwerk gingen.
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Dienstag, 16. 11. 2004 – Scheiterhaufen
Wie ein unruhiger, einsamer Wolf, der sein Rudel verloren hat, schlich Gero am Morgen die Treppe hinunter, während Matthäus
noch schlief. Im Erdgeschoss angekommen, blieb er stehen und starrte im Dämmerlicht auf die verschlossene Tür, hinter der
er seine Gastgeberin vermutete. Ob sie im Schlaf einen ebenso herzzerreißend schönen Anblick bot wie bei Tag?
Durch die angelehnte Tür schlüpfte er ins Bad. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihm selbst im Halbdunkel, dass sein nächtlicher
Gefühlsausbruch Spuren hinterlassen hatte. Das Weib oder gar sein Knappe durften ihm auf keinen Fall ansehen, dass er geweint
hatte. Er betätigte den Drehhebel, so wie Matthäus es ihm gezeigt hatte, und hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen unter
das sprudelnde, kalte Wasser. Prustend richtete er sich auf und nahm eines der weißen Handtücher, die sauber gestapelt auf
der Fensterbank lagen. Er machte es gründlich nass, und nachdem er es ausgewrungen hatte, presste er es kühlend auf Augen
und Nase.
Tastend nahm Gero auf dem Rand des großen Badebottichs Platz und atmete tief durch. Dabei musste er an Struan denken und ihr
letztes, längeres Gespräch in der Komturei von Bar-sur-Aube. Er seufzte und stellte sich abermals die Frage, was wohl seinen
beiden Kampfgenossen und dem Mädchen widerfahren war, nachdem ihn und den Jungen das seltsame Licht erfasst hatte. Vergangene
Nacht hatte er nicht nur dafür gebetet, dass er und der Junge heil nach Hause zurückgelangten, sondern auch für die Unversehrtheit
seiner Freunde. Ob sie ihm je Glauben schenken könnten, wenn er ihnen von seinen Erlebnissen erzählen würde? In der Mehrzahl
waren Templer abergläubische Gesellen, die sich mühelos für jede noch so hanebüchene Geschichte erwärmen konnten, und Struan
und Johan machten da überhaupt keine Ausnahme. Eine kindliche Neugierde ergriff Gero, ob das Haupt der Weisheit, bei dessen
Beschaffenheit d’Our nicht ins Detail gegangen war, das Bekenntnis, in die Zukunft gereist zu sein, an Brisanz aufwiegen würde.
Allerdings war es müßig, darüber zu grübeln, wo er noch nicht einmal |331| wusste, ob die Katakomben Heisterbachs noch existierten und ob das geheimnisvolle Artefakt noch vorhanden war. Ganz zu schweigen
davon, ob er jemals die Gelegenheit erhalten sollte, in seine Welt zurückzukehren.
Wie von weit her drang eine verschwommene Erinnerung in sein Bewusstsein. Hatte Cäsarius von Heisterbach, ein früherer Prior
der Abtei, nicht Anfang des 13. Jahrhunderts die Geschichte von einem verschwunden Mönch verfasst, der angeblich dreihundert
Jahre und mehr in die Zukunft gereist war? Gero versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, wie die Sache ausgegangen war.
Hatte dieser Mönch zu seinen Brüdern in der Vergangenheit zurückkehren können … oder war er in der Zukunft geblieben? Aber
wie hätte Cäsarius dann wissen können, wie es dem Bruder in der Zukunft ergangen war? Wie war der Mönch überhaupt in die Zukunft
geraten? Er war eingeschlafen und hatte zuvor an Gott gezweifelt. Insofern, dachte sich Gero, gab es durchaus Parallelen zwischen
seinem eigenen Schicksal und dem des vermissten Zisterzienserbruders. Mit dem Unterschied, dass er selbst nicht eingeschlafen,
sondern ohnmächtig geworden war, aber sein Zweifel an Gott hatte ihm Stunden zuvor ebenfalls zu schaffen gemacht. Schließlich
hatte er sich unaufhörlich gefragt, wie Gott es zulassen konnte, dass König und Papst so ein furchtbares Unrecht begingen,
ohne dass ihnen eine höhere Macht Einhalt gebot.
Gero kam zu dem Schluss, dass er zur Abtei Heisterbach gelangen musste. Nur dort konnte er eine Antwort auf all seine Fragen
finden. Wie er das anstellen
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