Das Rätsel Sigma
benachrichtigt.
Als ich eintraf, wurde eben der dritte Fall eingeliefert: Sonja Edderstedt, einundzwanzig Jahre alt, war, bitte lachen Sie nicht, in der Badewanne eingeschlafen und nicht wieder wach zu kriegen. Ihr Ehemann hatte angerufen, allerdings erst später. Sie war ebenfalls gegen achtzehn Uhr dreißig in Schlaf gesunken.
Die Computerdiagnose blieb in allen drei Fällen ergebnislos. Das Elektroenzephalogramm zeigt normalen Schlaf. Alle drei wohnen in Neuenwalde, arbeiten in verschiedenen Betrieben, sind weder verwandt noch näher bekannt miteinander. Die beiden Damen arbeiten in Schichten, Erwin Kottner dagegen in Normalschicht. Wir werden mit ihm zwei Weckversuche anstellen, seine Frau wird uns dabei unterstützen. Das ist im Moment alles.“
Herbert dachte eine ganze Weile nach. „Kann heißes Wasser einen Schock auslösen?“ fragte er dann. „Ich meine, bei einem Autounfall und bei einem Sturz ist ein Schock denkbar, aber in der Badewanne?“
„Man kann auch in der Badewanne ausrutschen“, sagte der Arzt lustlos, „leider war das nicht mehr zu klären, der Ehemann hat nicht darauf geachtet, wie es im Bad aussah, als er seine Frau fand, und nachdem er sie herausgehoben hatte, schwamm natürlich alles. Und der Unfall im Arbeitertheater geschah in der Kulisse, niemand hat etwas gesehen.“ Der Arzt erhob sich. „Wir haben schon erfragt, was irgend zu erfragen war. Ähnliche Symptome hat es früher in ganz vereinzelten Fällen gegeben, sogenannten unerweckbaren Schlaf, aber dann war infolge einer schweren Schädelverletzung oder einer mißglückten Operation das – nun sagen wir mal: das Weckzentrum im retikulären System des Hirnstamms verletzt. Das ist in diesen Fällen ausgeschlossen, weil es sehr tief innen liegt.“ Er breitete die Arme aus. „Das ist alles, was wir bis jetzt sagen können. Die Kranken sind nicht in unmittelbarer Lebensgefahr, und die weiteren Untersuchungen werden uns sicherlich Aufklärung geben.“
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ fragte Herbert Lehmann.
„Sind Sie Arzt?“ Herbert schüttelte den Kopf.
Der Chefarzt machte eine Handbewegung, als wolle er sagen: Ja dann… Und er wollte wohl auch wirklich etwas Ähnliches sagen, doch in diesem Augenblick läutete das Video. Ein Rotkopf mit blassem Gesicht erschien auf der Scheibe.
„Wir haben jetzt Herrn Kottner zwei Stunden ununterbrochen am EEG – nur orthodoxer Schlaf.“
„Keine paradoxen Einschübe?“ fragte der Chefarzt erregt. „Warum erfahre ich das erst jetzt!“ Er winkte ab, als der Anrufer etwas sagen wollte. „Ja, schon gut, lassen Sie ihn weiter am Gerät. Ich komme vorbei.“
„Hat das etwas zu bedeuten?“ fragte Herbert.
„Ja, sicher“, sagte der Chefarzt bissig, „alles hat etwas zu bedeuten, man müßte nur wissen, was!“
Herbert verabschiedete sich betont formelhaft mit der Wendung: „Ich danke Ihnen für das Gespräch!“ Aber der Chefarzt schien die Anspielung gar nicht wahrzunehmen. Im Vorzimmer ließ sich Herbert noch die Personalien der Kranken geben. Erst als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm klar, daß er eigentlich immer noch nicht wußte, was er hier sollte. Leider begriff er nur zu gut, daß er für den Chefarzt nicht mehr als ein lästiger Besucher gewesen war. Es war eine Schwäche von ihm, daß er häufig zuviel Verständnis für den anderen aufbrachte. Diesmal hatte diese Schwäche ihn daran gehindert zu fragen, was dieser – wie hieß das? – orthodoxe und paradoxe Schlaf sei. Nun gut, das konnte man ja wohl auch auf andere Weise erfahren. Aber was war sonst noch im Gespräch offengeblieben? Wo konnte er ansetzen? Denn irgendwo mußte er ansetzen, irgend etwas mußte er klären, er konnte ja nicht auf der Straße stehenbleiben, und es wäre ihm auch zu dumm gewesen, mit leeren Händen zurückzukommen. Also wohin?
Er ging zurück zum Pförtner und fragte ihn nach dem Weg zum Volkspolizeikreisamt.
Es war kurz nach Mitternacht, als sie bei der Kreuzung ankamen, auf der knapp sechs Stunden zuvor der Unfall geschehen war. Nach einigem Hin und Her hatte der Diensthabende im VPKA einen Offizier benachrichtigt, der Bereitschaftsdienst hatte, einen Oberleutnant Hoffmeister, und der hatte dann mit ihm gemeinsam den Oberwachtmeister aus den Federn geholt, der am Nachmittag hier den Verkehr geregelt hatte.
Die Kreuzung war leer, aber gut beleuchtet.
„Bitte schildern Sie mir jetzt möglichst genau, wie die Sache sich abgespielt hat“, sagte Herbert
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