Das Rätsel Sigma
Lehmann zu dem Oberwachtmeister.
„Also ich stand auf der Kreuzung, mit dem Gesicht zur stadteinwärts führenden Fahrbahn, die ja hauptsächlich befahren war. Ich sah den Wagen aber schon von weitem, ich wollte ihn vorbeilassen, bevor ich die Fahrtrichtung sperrte, um ein paar Fahrzeuge durchzulassen, die in der Querrichtung schon eine ganze Weile warteten. Ich habe ihn natürlich nicht ständig beobachtet, aber ein paarmal hingeblickt habe ich schon. Er fuhr ziemlich langsam. Einige Meter vor der Kreuzung schlug er leicht rechts ein, geriet dann hier drüben an die Bordkante und fuhr schräg über die Straße in den Verkehrsstrom hinein. Es ist ein Wunder, daß nicht mehr passiert ist.“
„Würden Sie sagen, daß er wie ein Betrunkener fuhr?“ fragte Herbert.
Der Verkehrspolizist dachte nach. Dann sagte er: „Nein. Ein Betrunkener – nein. Ich hab das zwar noch nicht oft erlebt, aber ein Betrunkener korrigiert doch sozusagen seine Fehler, mit Verspätung und mit heftigen Lenkreaktionen. Ich würde eher sagen, der Wagen rollte aus, ohne Gas und ohne gesteuert zu werden.“
„Vielleicht erklären Sie dem Genossen, worum es Ihnen genau geht?“ fragte Oberleutnant Hoffmeister.
„Ja, ja“, sagte Herbert, „wenn ich das nur selbst wüßte. Also wie ist das – nach dem Unfall hat der Fahrer keine Verletzung, er scheint nur zu schlafen. Es gelingt aber nicht, ihn zu wecken. Er hat auch kein Schlafmittel oder etwas Ähnliches genommen, das ist inzwischen bekannt. Nehmen wir mal an, ein Schock wäre die Ursache. Können wir klären, ob der Schock die Ursache des Unfalls oder der Unfall die Ursache des Schocks war?“
„Also Sie meinen, was eher war?“ fragte der Oberwachtmeister. „Meiner Meinung nach ist er dort eingeschlafen, vor der Kreuzung.“
„Hat es irgendwas gegeben, das ihn erschreckt haben könnte?“ fragte Herbert. „Ein plötzlicher Linksabbieger vielleicht? Oder ein Fußgänger?“
„Hätte ich gesehen!“ behauptete der Oberwachtmeister.
„Sind Sie sicher?“
„Ganz sicher. Sehen Sie doch hin. Und außerdem waren zu der Zeit noch die Auslagen von dem Eckgeschäft beleuchtet, da hätte ich keine Maus übersehen.“
„Also keinerlei äußerer Anlaß?“
„Keiner. Er ist dort eingeschlafen, und es war ein großes Glück, daß sein Fuß offenbar vom Gaspedal gerutscht ist. Aber…“ Der Polizist schwieg.
„Sie wollten noch etwas sagen?“ fragte Herbert.
„Ich muß erst noch sortieren“, sagte der Polizist. Er betrachtete nachdenklich die Kreuzung. „Kann ich mir den Wagen noch einmal ansehen, Genosse Oberleutnant?“ fragte er dann.
Der Unfallwagen stand noch in der Verkehrsinspektion. Er war nur links vorn verbeult, ein Scheinwerferpaar war zerstört.
„Ich müßte jetzt zwei, drei Meter damit fahren“, sagte der Oberwachtmeister, „eigentlich darf ich das nicht.“
„Das geht schon in Ordnung, wir machen morgen früh ein Protokoll darüber“, erklärte der Oberleutnant.
Der Verkehrspolizist setzte sich hinein, fuhr zwei Meter vorwärts und wieder zurück.
„Hab ich mir gedacht!“ sagte er.
„Nun spannen Sie uns nicht auf die Folter!“ meinte Oberleutnant Hoffmeister.
„Sehen Sie her“, erklärte der Oberwachtmeister, „die Räder stehen jetzt genau geradeaus, aber der Querholm des Lenkrades steht etwas schräg. Der Fahrer wird also den linken Daumen unterhalb, den rechten oberhalb des Querholms gehabt haben. Die Fahrbahn ist dreispurig, er fährt auf der Linksaußenspur. Plötzlich verliert er das Bewußtsein, die Hände gleiten herab, der rechte Daumen nimmt das Lenkrad ein ganz klein wenig mit – so. Der Wagen schert aus der Spur und fährt auf die rechte Bordsteinkante zu. Nur so kann es gewesen sein. Und trotzdem, so schnell schläft man doch nicht ein. Man schreckt doch noch mal auf oder so.“
„Hat Ihnen das weitergeholfen?“ fragte Oberleutnant Hoffmeister.
„Ich kann es nicht genau sagen“, antwortete Herbert ehrlich, „aber ich glaube ja.“
„Darf ich eine Frage stellen?“ sagte der Oberwachtmeister.
„Bitte.“
„Was ist denn daran so Besonderes? Der Mann hat die Fahrt in übermüdetem Zustand angetreten und muß bestraft werden. Fertig.“
„Der Mann war überhaupt nicht müde, als er die Fahrt antrat“, sagte Herbert. „Sie haben schon recht – so schnell schläft man normalerweise nicht ein. Es scheint sich um eine unbekannte Krankheit zu handeln.“
„Eine Krankheit? Gibt es denn noch mehr Fälle?“
„Ja,
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