Das Rätsel Sigma
doch ganz verschiedene Betriebe…“ In seinem Kopf entstand so etwas wie der Funke eines Gedankens, die Ahnung eines Zusammenhangs, er hörte gar nicht, wie Frau Hoffmeister ihm eifrig erklärte, daß das Kernkraftwerk ein ganzer Komplex verschiedener Industrien und Institute sei, er wußte das ohnehin, von Leif, seinem Schwager, aus gelegentlichen Gesprächen.
„Haben Sie Video?“ fragte er mitten in ihre Erklärungen hinein, er bemerkte seine Schroffheit erst, als sie verstummte, und sagte: „Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber Sie haben eben etwas entdeckt, das ungeheuer wichtig sein kann. Ich bin wirklich froh, daß ich Sie kennengelernt habe, aber jetzt…“
Erwin Kottner, die Haube des Elektroenzephalografen auf dem Kopf, lag lang ausgestreckt auf dem Krankenbett und schlief ruhig und fest, als der Chefarzt mit seinem Gefolge das Zimmer betrat. „Bisher keine Veränderung“, meldete der Assistent am Gerät.
Der Chefarzt trat wortlos zu ihm und betrachtete die Aufzeichnungen. „Wir versuchen es trotzdem“, sagte er. „Aber nur mit normalen Reizen: Klingel und Riechfläschchen.“
„Befürchten Sie, daß stärkere Reize schädlich wirken können?“ fragte jemand aus seiner Begleitung.
„Das weiß ich sowenig wie Sie. Oder ist ihnen ein vergleichbarer Fall bekannt? Na also. Ohne Not soll man nur Dinge tun, bei denen man sicher ist, daß sie nicht schaden.“
Der Zurechtgewiesene gab sich zufrieden, aber ein anderer murmelte etwas von modern eingerichtetem Krankenhaus.
Der Chefarzt wandte sich um. „Ein Wecker und ein Riechfläschchen sind für mich genausowenig altmodisch wie Kamille und Salbei. Schluß der Debatte.“ Er zog einen Zeitwecker aus der Tasche, wie er in Labors verwendet wird, stellte ihn ein und legte ihn auf das Kopfkissen neben den Patienten. „Achtung“, sagte er und sah den Assistenten am EEG an.
Der Wecker klingelte. „Keine Veränderung!“ meldete der Assistent.
Zwei weitere Versuche blieben ergebnislos.
Jetzt zog der Chefarzt ein Riechfläschchen aus der Tasche, öffnete es und hielt es dem Patienten unter die Nase. Nichts regte sich in Erwin Kottners Gesicht.
„Keine Veränderung“, meldete der Assistent, „weiterhin orthodoxer Schlaf mit ausgeprägten Schlafspindeln.“
Der Chefarzt nickte, drehte sich um und drückte einem anderen Arzt Wecker und Riechfläschchen in die Hand. „Sie führen bitte die gleichen Versuche bei den beiden Patientinnen durch. Danach kommt wieder Herr Kottner an das Gerät und wird weiter beobachtet. Sie benachrichtigen mich sofort vom Ergebnis. Ich bin in meinem Zimmer. Ich werde das Ministerium direkt informieren. – Und Sie, meine Damen und Herren, werden entschuldigen, daß ich diese Operation selbst vorgenommen habe. Ich mußte wohl nicht ganz zu Unrecht befürchten, daß Sie den Umgang mit so veralteten Geräten an Ihren Schulen nicht erlernt haben!“
Der Direktor des Kernkraftwerkes hatte Herbert abgeholt, sich kurz informieren lassen und dann sofort telefonisch die verschiedensten Anweisungen gegeben. Als sie im Kraftwerk eintrafen, war die Sicherheitszentrale bereits voll in Betrieb. Der große, rings mit Armaturen, Anzeigegeräten und Bildschirmen ausgestattete Raum war voller Menschen, die alle rote, gelbe, blaue, grüne und weiße Schutzanzüge trugen. Einige saßen an den Geräten, andere liefen hierhin und dorthin, wieder andere standen reglos in Ecken und Durchgängen und warteten anscheinend auf irgend etwas.
Die Geräte klickten, summten, Satzfetzen schwirrten durch die Luft – kurz, es war das scheinbar unübersichtliche, in Wirklichkeit jedoch genau abgestimmte Getriebe einer prozeßleitenden Zentrale.
Ihr Eintritt wurde von niemandem beachtet. Der Direktor schritt auf ein Gerät zu, blieb hinter dem Bedienenden stehen und tippte ihm auf die Schulter. Der sah sich kurz um, nickte und konzentrierte sich dann wieder auf seine Tätigkeit.
Herbert war dem Direktor gefolgt und stand jetzt neben ihm. Das war also der Generaldirektor des ersten schnellen Brüters der Republik. Erich Heintze hieß er, Herbert hatte das nicht einmal gewußt, denn das Kernkraftwerk wurde unmittelbar von der Energiekommission der Zentralen Inspektion für Umweltschutz kontrolliert.
Erich Heintze war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem ovalen, etwas zerknittert wirkenden Gesicht – vielleicht vor Müdigkeit, es war immerhin fast drei Uhr in der Nacht. Aber sein Blick war scharf auf Bildschirm und
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