Das Rätsel Sigma
waren. Der Saal wimmelte von Menschen in weißen Kitteln – sowjetische und deutsche Assistenten. Als Monika Baatz und Dr. Knabus dazukamen, wurde gerade der erste Kranke gebracht und ins Bett gelegt. Man sprach russisch, hin und wieder übersetzte ein Assistent, der einen Transcoder wie einen Fotoapparat vor der Brust hängen hatte, einen besonders schwierigen Fachausdruck ins Deutsche.
Der Ingenieur war ein untersetzter Mann mit krausem schwarzem Haar und buschigen Augenbrauen. Nur an den unzähligen Fältchen in seinem Gesicht erkannte man, daß er weit über die Sechzig hinaus sein mußte.
Er begrüßte Monika Baatz mit großer Freude und schüttelte auch dem Chefarzt Dr. Knabus kräftig die Hand, sprach lebhaft, gestikulierte und brachte es dabei noch fertig, die Vorgänge am Krankenbett genau im Auge zu behalten und zwischendurch Anweisungen zu geben.
„Sie wollen sicher wissen, wie weit wir sind? Sie sehen ja, die Geräte sind montiert, der erste Kranke wird angeschlossen. Das dauert seine Zeit, die Apparate sind so empfindlich, daß sie bei jedem Patienten individuell angepaßt werden müssen. – Zum Teufel, wollt ihr wohl vorsichtig sein, Millimeterarbeit, hab ich gesagt! – Ja, bis Mittag werden wir alle angeschlossen haben. Wir nehmen die fünf ersten und die fünf letzten Fälle, weil wir dadurch Vergleichsmöglichkeiten bekommen. Wir freuen uns über diesen Einsatz, in erster Linie natürlich, weil wir hoffentlich helfen können, aber seien Sie uns nicht böse, ein bißchen auch darüber, daß unsere Geräte gleich eine solche Feuerprobe zu bestehen haben. Sie wissen ja, es sind Neuentwicklungen, auf deutsch würde man sie vielleicht Elektrophysiografen nennen. Sie erfassen die elektrischen Vorgänge im Körper komplex. Wichtigstes Untersuchungsobjekt bleibt das Gehirn, aber durch die Komplexität können wir ja die Dynamik der Hirnrindenvorgänge besser erfassen, und die sagt ja manches aus über die darunter liegenden Regionen. – Mitja, Mitja, die Kurve schmiert doch noch, das nennst du Feinabstimmung! Aber ich wollte Ihnen etwas anderes zeigen. Ein Patient fing plötzlich an, im Schlaf zu reden. Wir haben natürlich nichts verstanden, sehr undeutlich, und dann die fremde Sprache, aber wir haben es auf Band genommen. Vielleicht hilft es Ihnen?“
„Wer war das?“ fragte Monika Baatz.
„Erwin Kottner“, sagte einer der Assistenten. „Hier ist die Spule.“
„Und wann genau?“ wollte der Chefarzt wissen.
„Vor zehn Minuten. Er murmelte etwa drei Minuten lang, mit Unterbrechungen.“
Monika Baatz sah auf die Uhr. „Paradoxe Schlafphase. Vielleicht wiederholt es sich in der nächsten. Vielen Dank erst einmal, wir sind rechtzeitig wieder hier.“
Im Zimmer des Chefarztes hörten sie die Spule ab. Es waren tatsächlich nur einzelne Worte zu verstehen, und sie ergaben keinen Sinn. Auch beim zweiten- und drittenmal verstanden sie nicht viel mehr.
„Was nun?“ fragte Monika Baatz. „Hast du eine Idee?“
Der Chefarzt war aufgestanden und wanderte im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen. „Wenn wir es nun mit einem Artikulator aus der HNO versuchen?“ Er wartete die Antwort Monikas gar nicht ab, sondern rief gleich an und bat, solch ein Gerät sofort herbeizubringen. Es diente sonst dazu, Gehörlosen und Schwerhörigen zu einer besseren Aussprache zu verhelfen, indem es zugleich die Konsonanten schärfer ausprägte und dem Sprechenden die Sprechfehler und -ungenauigkeiten elektronisch anzeigte. Allerdings mußte es jeweils an die besonderen Sprachabweichungen des Patienten angepaßt werden.
Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie das Gerät richtig eingestellt hatten. Dann aber wurden wenigstens Wortgruppen und halbe Sätze verständlich, wenn auch der Sinn des Ganzen noch rätselhaft blieb. Der Chefarzt nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Er hatte sich die Satzfetzen auf ein Blatt notiert und murmelte vor sich hin.
„Es sieht aus, als ob er von seiner Arbeit spricht“, sagte er nach einer Weile. „Reaktorleistung steigern… Neutronenfluß… Einstein taucht ein paar Mal auf… Ragulin-Effekt… Kennst du einen Ragulin-Effekt?“
„Nie gehört!“ erwiderte Monika Baatz.
„Das haben wir gleich“, rief der Chefarzt energisch, nahm an seinem Arbeitstisch Platz und tippte ein paarmal am Terminal des Bibliothekscomputers. Dann runzelte er die Stirn. „Einen Ragulin-Effekt gibt es nicht“, sagte er, „wenigstens nicht in unserer Bibliothek.
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