Das Raetsel von Flatey
dann
werden?«
»Ich werde vielleicht im Herbst
als Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei anfangen. Einer
meiner Professoren hat mir diese Arbeit für den Sommer
verschafft. Ich würde mich am liebsten in Zukunft mit
Finanzrecht befassen. Da ist es bestimmt ein ganz gutes Praktikum,
wenn ich mich diesen Sommer mit Pfandverschreibungen und
Grundbucheintragungen beschäftige.«
Der Gemeindevorsteher blickte auf den
Kasten, der zu ihren Füßen stand. »Na, dann hieven
wir das Ding jetzt einfach mal an Bord und holen die Leiche. Vorher
machen wir aber nochmal Halt auf Flatey bei meiner Imba, um uns zu
stärken. So wie ich sie kenne, steht bei ihr um ein Uhr das
Mittagessen auf dem Tisch.«
»Wisst ihr schon, wer der Tote
ist?«, fragte Kjartan. Er hoffte auf eine positive Antwort,
weil das die Sache vereinfachen würde, aber dieser Wunsch
erfüllte sich nicht, denn Grímur antwortete:
»Nein, das wissen wir nicht. Valdi von Endenkate sagte
bloß, dass sie einen Toten auf Ketilsey gefunden hätten,
mehr nicht. Die Burschen haben sich auch nicht besonders klar
ausgedrückt, obwohl sie sonst unentwegt quasseln und am
liebsten alles gleich zweimal sagen. Soweit ich verstanden habe,
ist der arme Kerl aber schon etwas länger tot. Möglich,
dass er ein Schiffsunglück überlebt hat und dann bei
Springflut so weit ins Fjordinnere getrieben worden ist. Ich gehe
mal davon aus, dass wir da nicht viel mehr als ein Gerippe
vorfinden werden. Aber am besten ist man auf alles gefasst. Und das
muss dann genau protokolliert werden. Da bist du natürlich in
deinem Metier.«
Kjartan konnte sich nicht daran
erinnern, dass im Jurastudium derartige Dienstvorgänge
behandelt worden wären, aber selbstverständlich
würde er etwas zu Papier bringen können.
Unwillkürlich fasste er mit der einen Hand in die Innentasche
seines Mantels, zog ein Notizbuch und einen Stift hervor und
probierte ihn auf einer leeren Seite aus. Er schien in Ordnung zu
sein. Die Männer aus Flatey schauten ihm interessiert
zu.
»Ja, ja, ich schreibe einen
Bericht«, erklärte Kjartan etwas verlegen und steckte
das Notizbuch wieder in die Tasche.
Die beiden stiegen wieder ins Boot
und nahmen die Kiste in Empfang, die Kjartan von der Kaikante
heruntergleiten ließ. Eine kleine Reisetasche nahm denselben
Weg und zum Schluss der Bevollmächtigte selber, nachdem er die
Landfesten gelöst hatte. Högni band den Kasten mit einer
alten Schnur zwischen zwei Ruderbänken fest. Unterdessen
ließ Grímur den Motor mit einer Kurbel an, der
Rückwärtsgang wurde eingelegt, und das Boot glitt von der
Anlegebrücke weg. Sobald sie offenes Wasser erreicht hatten,
ging es volle Kraft voraus Richtung Süden.
*
Die Seiten der Munksgaard-Ausgabe von
Flateyjarbók glitten durch ihre Finger. Hin und wieder hielt
sie inne und las den einen oder anderen Satz laut. Auf jeder Seite
des Buchs war eine Seite der Pergamenthandschrift in
Originalgröße als Faksimile wiedergegeben. Es war
deutlich und klar, aber die Farbenpracht des Originals fehlte. Das
Papier war sehr hell und gut erhalten.
Schließlich klappte sie das
Buch zu, öffnete es dann aber wieder auf den ersten Seiten und
begann ihre Erzählung mit tiefer Stimme, sicher und ohne zu
stocken: »Flateyjarbók beginnt mit einem Sammelsurium
von alten Texten und Gedichten, beispielsweise dem Hyndla-Lied, mit
kürzeren Erzählungen über den König Sigurd
slefa, und dann auch Genealogien und dergleichen. Alle diese
kleineren Stücke sind wahrscheinlich erst ganz am Schluss der
Niederschrift entstanden, aber die Blätter wurden vorne
eingeheftet, als das Buch gebunden wurde. Auf der vierten Seite
beginnt die Saga von Eríkur dem Weitgereisten, und dann
folgt die große Saga von König Olaf Tryggvason, der die
Norweger zum Christentum bekehrte. Dieser Olaf herrschte von 995
bis 1000 in Norwegen, und seine Saga ist ein umfangreiches Werk,
das sich aus vielen Geschichten und Erzählungen zusammensetzt,
darunter die Saga von den Jomswikingern und die Sagas von den
Bewohnern der Färöer und der Orkney-Inseln, die
Grönländer-Saga und viele andere ...
Drei
Kaum hatten sie die Schären vor Brjánslækur
hinter sich gelassen, als sich der Bootsmann auf einen Jutesack
legte, der über einen Haufen Netze gebreitet war. Er zog die
Schirmmütze über die Augen, verschränkte die
Hände über der Brust und streckte die Beine
aus.
Kjartan hatte sich auf einer
Ruderbank niedergelassen und saß Grímur
gegenüber, der steuerte. Das
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