Das Rätsel
den Fingern über seine Narben strich.
Sie taten immer noch weh. Sie hatten immer wehgetan.
Ein Psychologe hatte ihm einmal erklärt, was Phantomschmerz ist, und beschrieben, dass einem Amputierten das abgenommene Bein noch lange wehtun konnte. Der Arzt hatte vermutet, das Brennen in seinen Narben am Hals fiele in dieselbe Kategorie. Die Verletzung war nicht mehr physisch, sondern mental. Doch der Schmerz war derselbe. Er hatte gehofft, mit dem Tod des Bruders, der sie ihm beigebracht hatte – eine Pfanne mit brutzelndem, zerlassenem Speck, die am Ende eines Streits quer über den Tisch an seine Kehle geflogen war – müssten sie verschwinden, aber das war nicht der Fall. Sein Bruder war vor über zehn Jahren bei einer Messerstecherei auf dem Gefängnishof ums Leben gekommen, und die Narben brannten immer noch. Über die Jahre hatte er sich mit der Empfindung und dem Schmerz irgendwie abgefunden und auch mit der Tatsache, dass er ein Mal auf der Hauttrug, das ihn zu gleichen Teilen mit Hass und Schmerz erfüllte.
Er starrte auf den Monitor und rief sich noch einmal Jeffrey Claytons Gesicht ins Gedächtnis.
Sie haben beinahe recht, Professor. Ich bin der gefährlichste Mann, dem Sie je begegnen werden, dachte er. Nicht der zweit- oder drittgefährlichste, nein, ich führe die Liste an. Und es dauert nicht mehr lang, bis ich es Ihnen beweisen werde, und genauso Ihrem Vater.
Robert Martin grinste. Der einzige Unterschied zwischen seinem toten Bruder und ihm selbst war die Dienstmarke, die er besaß. Und damit fiel seine eigene Gewaltbereitschaft in eine völlig andere Kategorie.
Martin stieß sich vom Schreibtisch ab. Er notierte die Uhrzeit, für die der Wagen ans Haus bestellt worden war, und beschloss, da zu sein, um Susan Claytons Abreise zu observieren.
Der Bildschirm waberte vor seinen Augen wie an einem heißen Tag die flirrende Luft über dem Highway. Er hatte bereits einen einzigen Befehl eingetippt, mit dem er die Behörde autorisierte, für alle Ausgaben aufzukommen, die unter 2KODAK1 anfielen.
Er hatte diese Entscheidung bekräftigt, indem er in einem internen Memo 2KODAK1 als Diana und Susan Clayton aus Tavernier, Florida, identifizierte. Eine Kopie dieses Memos hatte er elektronisch an seine Vorgesetzten bei der Sicherheit wie auch bei der Einwanderungsbehörde und der Passkontrolle geschickt. Damit stand es Mutter und Tochter frei, innerhalb des gesamten Staates zu reisen wie auch, ihn zu verlassen und zurückzukehren.
Er schmunzelte. Dieses Memo war genau das, was Jeffrey ihm untersagt hatte.
Agent Martin wusste zwar nicht, wie lange der Mann, den er jagte, brauchen würde, bis er herausfand, dass seine Frau und seine Tochter in einem staatseigenen Haus in New Washington wohnten. Möglicherweise wusste er es schon, doch Martin bezweifelte, dass selbst ein so gewiefter Killer wie Jeffreys Vater derart schnell auf dem Laufenden war. Irgendwo zwischen vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, nahm er an. Wenn er es herausgefunden hat, dachte er, und einiges von ihren Computeraktivitäten mitbekommt, wird er immer noch vorsichtig sein, auf der Hut, aber neugierig. Und langsam, aber sicher wird die Neugier die Oberhand gewinnen. Aber einfach nur die Computerpost zu lesen wird ihm nicht reichen, oder? Nein, er wird sie sehen wollen. Also geht er zu dem Haus und kundschaftet sie aus. Aber auch das wird ihm nicht genügen, nicht wahr? Nein. Er wird mit ihnen reden wollen. Auge in Auge. Und danach wird er auf Tuchfühlung mit ihnen gehen wollen.
Und wenn er das tut, bin ich da. Auf der Lauer.
Agent Martin stand auf: 2KODAK1 – zwei Köder Klasse eins. Schwaches Wortspiel, dachte er. Aber immerhin.
In diesem Moment kam ihm die Frage in den Sinn, ob die im Wald angepflockte Ziege aus Angst zu meckern beginnt, wenn sich der Tiger nähert, oder aus Frustration, weil sie weiß, dass ihr unbedeutendes Leben geopfert wird, damit der Jäger, der sich im Gebüsch versteckt, einen einzigen sauberen Schuss abgeben kann.
Als Agent Martin das Büro verließ, hatte er zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl, einen Vorsprung gewonnen zu haben.
Es war noch stockdunkel, als der Detective von zu Hause aufbrach, um zu dem Haus zu fahren, in dem Mutter undTochter schliefen. So früh am Morgen, vor Sonnenaufgang, herrschte noch wenig Verkehr. Das Leben im Einundfünfzigsten Bundesstaat war weniger hektisch als anderswo; die Geschäftszeiten richteten sich eher nach den Bedürfnissen der Bewohner, und so fuhr er
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