Das Rätsel
jahrelange Verdrängung verschüttet war. Sie stellte sich vor, wie sie selbst als Kind gewesen war, ein Wildfang mit Pferdeschwanz, schmutzigen Fingernägeln und in Jeans, der durch ein großes Haus läuft. Es gab ein Arbeitszimmer, rief sie sich ins Gedächtnis. Meistens war er da. Vor ihrem geistigen Auge war sie klein, vielleicht drei oder vier, und stand vor der Tür zum Arbeitszimmer. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie die Tür aufschob und den Mann im Zimmer anstarrte, doch sie brachte es nicht über sich. Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft, als hätte sie unter Wasser den Atem angehalten. Ihr Herz raste. Sie blieb sitzen, bis es sich beruhigt hatte.
Als plötzlich das Telefon klingelte, sprang sie auf und war mit einem großen Schritt am Hörer.
»Susan?« Es war ihr Bruder.
»Jeffrey! Wo steckst du?«
»Ich war in New Jersey. Bin auf dem Rückweg. Ich muss nur noch jemanden in Texas sprechen, das heißt, wenn er mich empfängt, da bin ich mir aber nicht sicher. Bei dir und Mom alles klar? Hattet ihr einen guten Flug?«
Susan drückte auf die Computerverbindung, und Jeffreys Gesicht erschien auf dem Monitor. Er wirkte fast freudig erregt, was sie erstaunlich fand.
»Wir hatten einen guten Flug«, berichtete sie knapp. »Mich interessiert weitaus mehr, was du rausgefunden hast.«
»Ich habe festgestellt, dass es nahezu unmöglich sein wird, unseren Vater mit herkömmlichen Mitteln zu finden. Ich erklär’s euch im Einzelnen, wenn wir uns sehen. Aber unsbleiben nur unorthodoxe Methoden. Ich glaube, das hatte die dortige Polizei mehr oder weniger auch schon begriffen, als sie mich ins Boot holten. Vielleicht war es ihnen letztlich nicht klar, aber darauf läuft es hinaus.«
Er schwieg, dann fragte er: »Und? Wie gefällt dir die Zukunft?«
Susan zuckte die Achseln. »Werd ’ne Weile brauchen, um mich dran zu gewöhnen. Dieser Staat ist so blitzsauber und korrekt, dass man sich fragt, was passiert, wenn man in der Öffentlichkeit rülpst. Wahrscheinlich kriegt man einen Strafzettel. Oder wird verhaftet. Ist mir irgendwie unheimlich. Den Leuten gefällt das?«
»Offenbar schon. Du wirst dich wundern, auf was die meisten für echte Sicherheit verzichten. Und du wirst dich wundern, wie schnell du dich dran gewöhnst. War Martin eine Hilfe?«
»Der unglaubliche Hulk? Wo hast du denn den aufgetrieben?«
»Eigentlich hat er mich aufgetrieben.«
»Na ja, er hat uns ein bisschen rumkutschiert und dann in dieses Haus verfrachtet, wo wir auf dich warten sollen. Woher hat er diese Narben am Hals?«
»Keine Ahnung.«
»Muss ’ne ganz schöne Geschichte dahinterstecken.«
»Ich weiß nicht, ob ich sie hören will.«
Susan lachte, und Jeffrey hatte das Gefühl, sie seit Jahren zum ersten Mal lachen zu hören.
»Er wirkt wie ein extrem harter Bursche.«
»Er ist gefährlich, Susie. Trau ihm nicht über den Weg. Er ist wahrscheinlich die zweitgefährlichste Person, mit der wir es zu tun haben. Nein, korrigiere, die drittgefährlichste. Der zweiten statte ich einen Besuch ab, bevor ich zurück bin.«
»Vom wem redest du?«
»Jemand, der mir helfen könnte. Wenn er will. Wird sich zeigen.«
»Jeffrey …« Sie zögerte. »Ich muss dich etwas fragen. Was hast du über …« Sie setzte noch einmal an. »… unseren Dad rausgefunden? Dad passt wohl nicht. Unseren Paps? Unseren allerliebsten Vater? Gott, Jeffrey, wie soll ich ihn nennen?«
»Sieh ihn nicht als einen Menschen, mit dem wir blutsverwandt sind. Sieh in ihm ein Wesen, mit dem wir es besser als irgendjemand anders aufnehmen können.«
Susan hüstelte. »Das ist ein plumper Trick. Was hast du über ihn rausgefunden?«
»Ich habe erfahren, dass er gebildet und mit allen Wassern gewaschen ist, extrem reich und ganz und gar herzlos. Die meisten Mörder passen in keine dieser Kategorien außer der letzten. Ein paar vielleicht in zwei, weshalb sie äußerst schwer zu fassen sind. Ich hab noch nie von einem Mörder gehört, der drei dieser Kategorien erfüllt, geschweige denn, alle vier.«
Diese Beschreibung erwischte Susan eiskalt. Sie merkte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie hätte gerne etwas Kluges gefragt oder etwas Tiefsinniges gesagt, aber ihr fehlten die Worte. Sie war erleichtert, als Jeffrey fragte: »Wie geht es Mom?«
Susan warf einen Blick über die Schulter, die Treppe hoch, wo ihre Mutter sich hingelegt hatte und hoffentlich schlief.
»Hält sich soweit recht gut. Hat Schmerzen, aber sie lässt sich noch weniger
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