Das Rätsel
Krankheit. Eine Weile lang hatte der Krebs sie in Frieden gelassen, fast, als wollte er sehen, welche Folgen diese seltsamen Ereignisse für ihn hatten. Doch jetzt, nachdem er festgestellt hatte, dass der Schauplatzwechsel keine Bedrohung darstellte, hielt er es für angebracht, sich in Erinnerung zu bringen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Bauch, und sie schnappte laut nach Luft.
Ihre Tochter schaute auf. »Alles in Ordnung?«
»Ja, kein Problem«, log Diana.
»Du solltest dich ausruhen. Eine Tablette nehmen. Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Das geht vorüber. Aber ich nehme besser ein, zwei Pillen.«
Susan stand auf und hockte sich neben die Knie ihrer Mutter, um ihre Hand zu streicheln. »Es tut weh, nicht wahr? Was kann ich tun?«
»Wir tun, was wir können.«
»Vielleicht hätten wir nicht herkommen sollen?«
Diana lachte. »Wo sollten wir denn sonst hin? Zu Hause auf ihn warten, jetzt, da er uns gefunden hat? Ich bin genau da, wo ich sein möchte. Schmerzen hin, Schmerzen her. Was auch immer passiert. Außerdem hat Jeffrey gesagt, er braucht uns. Wir brauchen uns alle gegenseitig. Und wir müssen diese Sache zu einem Ende bringen. So oder so.«
Diana schüttelte den Kopf.
»Weißt du, Liebes, irgendwie habe ich fünfundzwanzig Jahre auf diesen Moment gewartet. Jetzt, da es so weit ist, lasse ich mir das nicht nehmen.«
Susan zögerte. »Du hast nie über unseren Vater gesprochen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir je über ihn geredet hätten.«
»Aber das haben wir«, erwiderte ihre Mutter mit einem Lächeln. »Tausendmal. Jedes Mal, wenn wir über uns geredet haben. Oder übereinander. Jedes Mal, wenn du ein Problem hattest oder etwas, das dir wehgetan hat, haben wir über deinen Vater geredet. Das war dir nur nicht bewusst.«
Susan zögerte mit ihrer Frage. »Wieso? Ich meine, was hat dich dazu gebracht, ihn zu verlassen, damals?«
Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte es dir sagen. Ich wünschte, es hätte einen bestimmten Moment gegeben. Aber den gab es nicht. Es war die ganze Art, wie er klang, wie er sprach. Wie er mich am Morgen ansah. Wie er plötzlich verschwand und dann plötzlich am Ausguss in der Küche stand und sich obsessiv die Hände wusch. Oder am Herd, wo er ein Jagdmesser in einem Topf Wasser abkochte. Ist es dieser durchdringende Blick gewesen? Der schroffe Klang seiner Worte? Einmal habe ich schreckliche, grausame Pornographie bei ihm gefunden, und er hat mich angebrüllt,ich sollte es nur ja nie wieder wagen, seine Sachen anzurühren. War es sein Geruch? Kann man das Böse riechen? Hast du gewusst, dass der Mann, der Eichmann identifiziert hat, blind war? Er hat den Buchhalter des Todes an seinem Rasierwasser erkannt. Irgendwie war es bei mir genauso. Es war eigentlich nichts. Und zugleich alles auf einmal.«
»Wieso hat er dich nicht aufgehalten?«
»Ich glaube, er hat mir nicht zugetraut, dass ich es schaffe. Ich glaube, er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ich ihm tatsächlich dich und deinen Bruder wegnehmen würde. Er hat wahrscheinlich gedacht, wir würden an der nächsten Kreuzung umkehren. Oder vielleicht am Rand der Stadt. Auf jeden Fall, bevor wir bis zur Bank kommen und ich mir ein bisschen Geld holen konnte. Er hätte nie gedacht, dass ich einfach weiterfahren würde, ohne einmal zurückzublicken. Er war viel zu arrogant, um mir so was zuzutrauen.«
»Aber du hast es gemacht.«
»Ja. Es stand viel auf dem Spiel.«
»Was?«
»Du und dein Bruder.«
Diana lächelte ironisch, als gäbe es nichts Näherliegenderes; dann griff sie in ihre Tasche und zog ein kleines Pillenfläschchen hervor. Sie schüttete sich zwei Tabletten in die Hand und warf sie sich in den Mund, um sie ohne Wasser zu schlucken.
»Ich denke, ich leg’ mich ein Weilchen hin«, erklärte sie. Sie strengte sich an, zügig zu laufen und jedes Schwanken oder Hinken zu vermeiden, das die Krankheit verursachte, als sie zur Treppe ging und hinaufstieg.
Susan blieb sitzen. Sie horchte auf das Öffnen und Schließen der Bade- und der Schlafzimmertür. Sie lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und versuchte, sich den Mann vorzustellen, der ihnen auf den Fersen war.
Graues Haar statt braunes? Sie erinnerte sich an ein Lächeln, ein legeres, spöttisches Grinsen, das ihr Angst machte. Was hat er uns angetan? Es musste etwas geben, aber was? Sie verfluchte innerlich ihre lückenhafte Erinnerung, denn sie wusste, dass etwas passiert, aber durch
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