Das Rätsel
kaum eine Menschenseele verirrt. Da habe ich einfach Glück gehabt, aber ist Glück nicht auch der Lohn für gute Planung? Ich glaube ja. Jedenfalls, Detective, ist das die eine Antwort auf Ihre Frage. Die komplexere Antwort geht natürlich ein bisschen tiefer. Und diese Antwort lautet: Seit ich erwachsen bin, habe ich mein ganzes Leben damit zugebracht, anderen Menschen Fallen zu stellen, in die sie ohne Vorwarnung hineintappten. Haben Sie gedacht, ich würde es nicht merken, wenn jemand umgekehrt mir ein Beinchen stellen will?«
Die Schneide zuckte an der Kehle des Detective. Er hüstelte.
»Ja.«
»Aber wie Sie sehen, haben Sie sich geirrt, Detective.«
Martin ächzte. Wieder wechselte er die Stellung.
»Sie würden gerne mein Gesicht sehen, nicht wahr?«
Martin spannte die Schultern an.
»Haben Sie manchmal von unserem ersten und einzigen Treffen vor so vielen Jahren geträumt? Haben Sie sich auszumalen versucht, wie ich mich seit unserer kleinen Unterhaltung damals verändert habe?«
»Ja.«
»Nicht umdrehen, Detective. Überlegen Sie einfach mal. Sie waren damals dünner, jugendlicher und athletischer. Muss das Alter nicht bei mir dieselbe Wirkung zeigen? Weniger Haar vielleicht. Ein bisschen mehr Fleisch auf den Wangen. Fülligerum die Körpermitte. Mit diesen Veränderungen wäre zu rechnen, oder?«
»Ja.«
»Und haben Sie bei meinem früheren Arbeitgeber oder vielleicht mit Hilfe meines Führerscheins nach einem alten Foto von mir gesucht, das Sie mit Hilfe eines Computerprogramms altern lassen können, so dass Sie auf elektronischem Wege herausfinden, wie ich jetzt aussehe?«
»Es gab keine Fotos, jedenfalls habe ich keine gefunden.«
»Ach, Pech aber auch. Trotzdem, Ihre Neugier geht noch in eine andere Richtung, nicht wahr? Sie glauben, es könnte zusätzlich Chirurgie im Spiel sein, habe ich recht?«
»Ja.«
»Und das kann ich nur bestätigen. Der wahre Test kommt natürlich erst noch. Es gibt drei Menschen, die mich wiedererkennen sollten. Sie sollten es wissen, sobald sie mich sehen. Sobald sie mich riechen. Sobald sie mich hören. Aber werden sie das auch? Werden sie mich trotz all der Jahre, trotz der besten ärztlichen Kunst erkennen? Werden sie die Veränderungen am Kinn, an den Wangenknochen, der Nase, was weiß ich, bemerken? Was ist gleich geblieben? Was ist anders? Werden sie bei aller Veränderung noch sehen, was unverändert ist? Das ist, finde ich, eine interessante Frage. Und das ist ein Spiel, das sich wirklich lohnt.«
Martin bekam schwer Luft. Er hatte eine trockene Kehle, seine Muskeln waren verspannt, und die Hände zitterten. Die Klinge an seiner Kehle bewirkte, dass er sich fühlte, wie mit einer reißfesten, unsichtbaren Schnur gefesselt. Die Stimme des Mörders war melodisch und weich. Er hörte die Bildung heraus, aber auch den Killer – so drückend wie die schwüle Hitze an einem Sommertag. Er wusste, dass diese flüssige Sprache und der sanfte Ton schon mehr als einmal dazu gedienthatten, ein Opfer am Abgrund des Entsetzens zu beruhigen. Die entspannte Gewissheit seiner Sprechweise war verstörend; sie stand im Widerspruch zu der Gewalt, die folgen sollte, und suggerierte etwas anderes, etwas viel weniger Schlimmes als das, was tatsächlich folgen sollte. Wie die sprichwörtlichen Tränen des Krokodils war die Ruhe des Mörders eine Maske, die darüber hinwegtäuschen sollte, was er beabsichtigte. Martin kämpfte innerlich mit einer großen Angst; er rief sich ins Bewusstsein, dass er selbst ein Mann der Tat war, ein Mann der Gewalt. Er bestand darauf, dem Mann, der ihn mit dem Messer an der Kehle kitzelte, gewachsen zu sein. Er war damit vertraut und konnte damit umgehen. Er erinnerte sich an seine eigene Gefährlichkeit.
Du bist nicht weniger ein Killer als er
. Er beschloss, nicht kampflos zu sterben.
Er wird dir eine Gelegenheit geben. Verpasse sie nicht.
Martin stählte sich und wartete.
Aber welchen Schachzug er machen würde und wann, dass schien in weiter Ferne zu liegen, nicht vorhersehbar.
»Haben Sie Angst davor, zu sterben, Detective?«, fragte der Mann.
»Nein«, erwiderte Martin.
»Wirklich? Ich auch nicht. Schon seltsam, finden Sie nicht? Ein Mann, der mit dem Tod so vertraut ist wie ich, hat immer noch Fragen. Merkwürdig, oder? Jeder kämpft auf die eine oder andere Weise gegen das Altern an. Manche suchen bei Chirurgen ihr Heil. Ich hab diese Leute gesehen, als ich meine Operationen machen ließ. Natürlich ging es mir um etwas anderes.
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