Das Rätsel
Immense Begierden. Denn sonst hätte er sich vermutlich vor vielleicht zehn oder fünfzehn Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen. Er hätte sich von den größten Serienmördern von allen schnappen und töten lassen können …« Hart warf einen raschen Blick auf den Einwegspiegel, »oder er hätte sich selbst umgebracht oder es einfach aufgegeben und wäre in den Ruhestand getreten. Jemand, der noch aktiv ist, wenn andere längst ihre Pension kassieren, also das nenne ich einen Mann von Charakter.«
Der Mörder griff mit seinen gefesselten Händen nach dem Päckchen vor ihm auf dem Tisch und zog eine weitere Zigarette heraus. »Aber das ist Ihnen ja nicht neu, Professor …« Hart beugte sich vor, steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und entzündete ein Streichholz.
»Schlechte Gewohnheit«, meinte er. »Ich mag schlechte Gewohnheiten.«
Jeffrey bewahrte sich einen kalten, klaren Ton. Er fühlte sich wie in einem Zoo, wo er durch eine Glasscheibe in die Augeneiner afrikanischen Mamba starrte. Etwas so Tödlichem so nahe zu sein, flößte ihm einen seltsamen inneren Frieden ein.
»Seine Opfer sind nach wie vor jung.«
»Frisch«, sagte der Mörder.
»Ohne Zeugen entführt …«
»Ein sehr umsichtiger und selbstbeherrschter Mann.«
»Werden an einsamen Orten gefunden, aber nicht versteckt. Bewusst arrangiert.«
»Hmh, ein Mann, der etwas mitteilen will. Er will, dass seine Arbeit gewürdigt wird.«
»Keinerlei Verbindung zu einem Tatort.«
Der Mörder schnaubte. »Natürlich nicht. Es ist ein Spiel, nicht wahr, Susan? Der Tod ist immer ein Spiel. Nehmen wir nicht Medikamente, wenn wir krank sind, um den Sensenmann auszutricksen? Rüsten wir nicht unsere Autos mit Airbags aus und schnallen uns an, damit er uns nicht überraschend holen kann?«
Susan nickte.
»Ich bin der Tod«, erklärte Hart ruhig. »Ihre Zielperson ist der Tod. Lassen Sie sich auf das Spiel ein. Deshalb hat Sie Ihr Bruder vermutlich hergeholt. Sie müssen das Spiel durchschauen und mitspielen.«
Der Mörder wandte sich wieder Jeffrey zu.
»Sie waren verdammt clever bei mir. Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, Professor. Ich hatte so viel vorausgesehen: polizeiliche Überwachung, Lockvögel – die üblichen Fallen der Ermittlungsbehörden. Aber dass Sie einfach all diese Frauen als Köder mit Ortungsgeräten ausstatten, darauf wäre ich nie gekommen. Das war ein echter Geniestreich, Professor. Und so grausam, also, fast so grausam wie ich. Sie konnten nicht davon ausgehen, dass die Erste es schafft, den Knopf zu drücken. Vielleicht nicht mal die Dritte. Oder die Fünfte. Ich habmich das immer gefragt, Professor. Wie viele Frauen hätten Sie geopfert, damit die Falle zuschnappte?«
Jeffrey überlegte einen Moment und antwortete dann: »So viele wie nötig.«
Der Mörder grinste. »Hundert?«
»Wenn es nicht anders gegangen wäre.«
»Ich hab Ihnen keine Wahl gelassen, nicht wahr?«
»Zumindest sah ich keine.«
David Hart kicherte wieder. »Hat Ihnen genauso viel Spaß gemacht wie mir, sie zu töten, stimmt’s, Professor?«
»Nein.«
Hart schüttelte den Kopf. »Na schön, Professor. Sicher nicht.« Es herrschte kurzes Schweigen im Raum. Susan hätte sich gerne zu ihrem Bruder umgedreht, um zu sehen, was ihm durch den Kopf ging, doch sie hatte Angst, den Mörder vor ihr aus den Augen zu lassen, als könnte der Wortschwall irgendetwas zum Bersten bringen, wie ein Felsen, der zu hohen Temperaturen ausgesetzt wird. Er wird uns sagen, was wir wissen wollen, dachte sie.
Der Mörder hob den Kopf. »Zunächst einmal müssen Sie begreifen, dass es ein Fahrzeug gibt.«
»Was für eines?«, fragte Susan.
»Ein Transportfahrzeug. Es muss groß genug sein, um das Opfer zu verstauen. Es muss normal genug sein, um nicht aufzufallen. Es muss zuverlässig sein. Diese abgelegenen Stellen – Vierradantrieb?«
»Ja, höchstwahrscheinlich«, erwiderte Jeffrey.
»Es wird ein paar Extras haben, für besondere Zwecke.
Getönte Scheiben.«
Jeffrey nickte. Kein Truck, nahm er an, der würde in Wohngegenden nicht unbemerkt bleiben. Auch kein aufgemotzter Geländewagen, denn dann müsste er die Leiche entweder aufden Rücksitz packen oder in einen hohen Kofferraum wuchten. Was würde passen? Er wusste die Antwort auf seine eigene stumme Frage. Es gab mehrere Modelle von Kleintransportern mit Vierradantrieb. Perfekt für die Stadt, in Wohnvierteln, in denen Eltern ständig Heerscharen von Kindern zu Sportveranstaltungen kutschierten, ein
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