Das Rätsel
Exotischen, Verbotenen hatten. Sie stolperte wieder, wenn auch nicht so schlimm wie beim ersten Mal. »Leck mich, fick dich ins Knie!« Sie kicherte und dehnte jedes Wort, so dass sie zu ihrem Rhythmus einen Fuß vor den anderen setzen konnte.
Der Weg bog nach links und duckte sich wie ein widerspenstiges Kind unter ihren Augen weg.
»Kann ja nicht mehr allzu weit sein«, überlegte sie laut. »Er hat gesagt, eine halbe Meile. Muss jeden Moment da sein.«
Sie lief weiter, immer den Pfad entlang und hatte den Eindruck, ein gutes Stück oberhalb der Straße zu sein, von der sie gestartet war. Einen Moment lang fühlte sie sich an ihr Zuhause auf den Keys erinnert und dachte, dass es hier nicht viel anders war als dort: Eben noch schillerten die Einkaufsstraßen in den rosigsten Farben, und im nächsten Moment machte das Meer dem allen ein Ende und erinnerte einen daran, dass die Natur und die Wildnis, allen hastigen und entschlossenen Anstrengungen des Menschen zum Trotz, nur Sekunden entfernt waren. Hier schien es ähnlich zu sein. Es herrschte einsame Stille. Sie war gern allein und hielt dieses Bedürfnis für eine der wenigen Eigenschaften, die sie ihrer Tochter mitgegeben hatte.
Sie holte tief Luft und sang ein paar Takte eines alten Liedes. »We are marching to Pretoria, Pretoria …«
Zwar klang ihre Stimme vor Anstrengung ein wenig abgehackt, doch immerhin traf sie einigermaßen die Töne, und sie bildete sich ein, dass ihr Lied von den Felsen widerhallte und in die Lüfte stieg.
»When Johnny comes marching home again, hoorah, hoorah. When Johnny comes marching home again, hoorah, hoorah. When Johnny comes marching home again, we’ll give him a mighty cheer again, and we’ll all feel glad when Johnny comes marching home …«
Sie lief schneller und nahm die Arme dazu.
»Off we go into the wild blue yonder. Climbing high into the sky …«
Sie warf den Kopf zurück und straffte die Schultern.
»Marschtempo«, befahl sie. »Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei. Drei, vier …«
Sie hatte die Kurve hinter sich und blieb stehen.
»Eins, zwei …«
Etwa fünfzig Meter vor ihr stand ein Wagen am Wegesrand. Es war eine weiße, viertürige Regierungslimousine, dieselbe, mit der Agent Martin Susan und sie am Flughafen abgeholt hatte. Sie sah den roten Aufkleber: »Unbeschränkter Zugang«.
Wieso sollte er bis hier hochgefahren sein, um sich mit ihr zu treffen? Sie rührte sich nicht vom Fleck, während ihr zahlreiche Fragen durch den Kopf schwirrten. Als ihr klarwurde, dass sie keine Antworten erwarten durfte, ohne näher heranzutreten, wichen die Fragen der Angst.
Langsam griff sie in ihren Rucksack und zog die Pistole heraus.
Sie entsicherte die Waffe mit dem Daumen.
Sie ließ von der Stelle aus, an der sie wie angewurzelt stehen geblieben war, so gut es ging den Blick in alle Richtungen schweifen und spitzte die Ohren, um zu hören, ob außer ihr noch jemand in der Nähe war, hörte aber nur ihren eigenen keuchenden Atem. Sehr langsam und vorsichtig trat sie vor, als liefe sie auf einmal am sehr schmalen Rand eines steilen, schlüpfrigen Abgrunds entlang.
»Na schön«, meinte Hart, »erzählen Sie mir zuerst ein bisschen über den Mann, nach dem Sie suchen. Was wissen Sie über ihn?«
»Er ist älter als Sie«, antwortete Jeffrey, »über sechzig, und er macht das schon seit Jahren.«
Der Mörder nickte. »Klingt schon mal interessant.«
Susan sah auf. Sie machte sich Notizen und versuchte, nicht nur auf die Worte des Mörders zu achten, sondern auch auf seine Modulation und seine Betonung, die ihr, wie sie hoffte, letztlich noch mehr verraten würde. An einer der Wände hing eine Videokamera, die das ganze Gespräch aufnahm, doch sietraute der Technik nicht zu, einzufangen, was sie hören konnte, wenn sie nur wenige Zentimeter von dem Mann entfernt saß.
»Was ist daran interessant?«, erkundigte sie sich.
Hart verzog den Mund zu seinem typischen schiefen Grinsen. »Ihr Bruder weiß das. Er weiß, dass der klassische Serienmörder, das Profil, an dem Wissenschaftler wie er seit Jahrzehnten feilen, wenig Platz für ältere Männer hat. Da passen jüngere rein, jemand wie ich. Wir sind stark. Fest entschlossen. Männer der Tat. Ältere Männer werden nachdenklicher, Susan. Die stellen sich das Töten lieber vor. Sie
phantasieren
darüber. Sie haben nicht mehr die Energie, um es wirklich
auszuführen
. Folglich müssen Ihren Mann da draußen von Anfang an mächtige Kräfte getrieben haben.
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