Das Rätsel
in eine Schleuse traten, verstummte das Geräusch mit einem Schlag. Draußen wartete der große Texas-Ranger, der sie zum Gefängnis gefahren hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Mann, ist das ein kranker Typ«, meinte der Ranger. »Ich hab durchs Kontrollfenster zugesehen. Miss, ich fand, Sie waren in einigen heiklen Momenten verdammt cool. Falls Sie sich je mit dem Gedanken tragen, sich beruflich zu verändern und ein Texas-Ranger zu werden, also meine Stimme ist Ihnen sicher.«
»Danke«, sagte Susan. Sie holte einmal tief Luft und hielt plötzlich den Atem an. Sie drehte sich zu ihrem Bruder um.
»Du hast es gewusst, nicht wahr?«
»Was gewusst?«
»Du wusstest, er würde sich nicht auf ein Treffen einlassen,außer vielleicht, um dir ins Gesicht zu spucken. Aber du hast auch gewusst, dass er der Versuchung nicht widerstehen könnte, vor mir zu prahlen. Deshalb wolltest du mich dabeihaben, richtig? Meine Anwesenheit sollte ihm die Zunge lösen.« Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Er nickte. »Das schien mir die richtige Strategie zu sein.«
Susan stieß einen langen, leisen Seufzer aus. Dann flüsterte sie ihrem Bruder zu: »Na schön. Was zum Teufel hat er gesagt?«
»Sie spielen nach ihrer eigenen Melodie.«
Susan nickte. »Okay. Das hab ich auch gehört. Aber was schließt du daraus?«
Sie marschierten im Eilschritt durch das Gefängnis, als sei jede Sekunde so wichtig wie gefährlich. »Weißt du noch, als wir klein waren, die absolute Regel? Ihn niemals zu stören, wenn er Geige spielte? Unten im Keller?«
»Ja. Wieso da? Wieso nicht in seinem Arbeitszimmer? Oder im Wohnzimmer? Stattdessen ist er mit der Geige in den Keller gegangen.«
Kaum wurde Susan klar, was das bedeutete, überschlugen sich ihre Worte. »Demnach suchen wir nach …«
»Seinem Musikzimmer.«
Professor Tod biss die Zähne zusammen.
»Nur dass er dort nicht Geige spielt.«
Diana Clayton war auf halbe Distanz an das Auto herangekommen, als sie die Gestalt sah, die hinter dem Lenkrad kauerte. Sie blieb noch einmal stehen und lauschte auf Geräusche. Dann ging sie vorsichtig weiter. Sie hatte das Gefühl, als sei es plötzlich heißer geworden, und sie hielt sich die Hand über die Augen, um sie vor der Sonnenspiegelung in der Metallkarosserie zu schützen.
Sie spürte, wie es ihr in den Ohren pochte und wie sich ihrHerzschlag beschleunigte. Sie wischte sich den Schweiß aus den Augen und hatte das Bedürfnis, den Atem anzuhalten. Sie musste sich zwingen, wachsam zu bleiben, statt nur auf die Gestalt im Wagen zu starren. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie schon einmal einen Toten gesehen hatte, erkannte aber, dass alle Opfer von willkürlicher Gewalt oder von Autounfällen, die sie bislang gesehen hatte, nur einen flüchtigen Eindruck hinterlassen hatten – eine Gestalt unter einem Tuch, ein kurzer Blick auf lebloses Fleisch, bevor es im Leichensack verschwand. Mit einer Ausnahme hatte sie sich noch nie einem Toten genähert, und schon gar nicht allein und schon gar nicht als Erste und erst recht nicht einem Opfer von tückischer Gewalt.
Sie überlegte, was ihr Sohn jetzt machen würde.
Er wäre vorsichtig, sagte sie sich. Er würde am Fundort nichts anrühren, um kein Beweismaterial zu zerstören. Ihm würde keine Nuance der Szene entgehen, weil ihm jedes Detail etwas mitteilte. Er würde die Umgebung lesen wie ein Mönch eine Handschrift.
Langsam trat sie vor und fühlte sich vollkommen überfordert.
Als sie nur noch drei Meter entfernt war, sah sie, dass die Scheibe im Seitenfenster auf der Fahrerseite zersplittert war und die Scherben auf dem Boden lagen. Die wenigen Glasreste, die noch im Rahmen steckten, waren mit rotem Blut sowie grauer Gehirn- und Knochenmasse verklebt.
Das Gesicht des Mannes konnte sie immer noch nicht sehen. Er war nach vorne auf das Lenkrad gesackt. Sie wünschte, sie hätte anhand der Schultern oder auch von Schnitt und Farbe der Kleidung sagen können, wer es war, doch sie musste passen. Sie sah ein, dass sie noch näher herantreten musste.
Ihre Hände legten sich fester um den Revolver. Sie drehte sicheinmal um die eigene Achse und spähte erneut in alle Richtungen.
Wie eine Mutter ans Bett ihres schlafenden Kindes schleicht, pirschte sich Diana auf Zehenspitzen seitlich an den Wagen heran. Ein rascher Blick auf den Rücksitz sagte ihr, dass er leer war. Erst jetzt zwang sie sich, die Leiche anzusehen.
In der Rechten baumelte dem Mann eine große halbautomatische Pistole mit einem
Weitere Kostenlose Bücher