Das Rätsel
Begegnung beschäftigt hatte. Er fragte sich, was Curtin ihr im Lauf der Jahre, in denen sie ihre mörderischen Abenteuer miteinander teilten, zu ihr gesagt hatte, um sie auf diesen letzten Akt vorzubereiten. So wie man langsam, aber zielstrebig einen Kampfhund abrichtet. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, die Muskeln unter dem Pullover gespannt. Und gleich einem Hund, der mit jeder Faser seines Wesens wie eine gespannte Feder auf das eine Wort seines Herrn wartete, so wartete auch sie. Jeffrey schoss durch den Kopf: Das ist eine Frau, die jeden Gedanken und jedes Gefühl über Bord geworfen hatte, bis nur noch diese Wut übrig geblieben ist. Und dieser ganze Zorn richtet sich auf mich. Das, was von Caril Anns Augen ausging, war wie ein starker, böser Wind, der einem ins Gesicht blies.
»Sträubst du dich immer noch?«, fragte sein Vater. »Kannst du dich immer noch nicht entscheiden?«
»Ich kann das nicht«, erwiderte Jeffrey.
Peter Curtin schüttelte in übertriebener Enttäuschung den Kopf kräftig hin und her.
»Was heißt, du kannst nicht? Lächerlich! Jeder kann töten, wenn er triftige Gründe hat. Mensch, Jeffrey, Soldaten töten aufgrund der fragwürdigsten Befehle von Offizieren, die sie hassen. Und ihr Lohn ist wesentlich bescheidener, als was ich dir heute Abend anbiete. Und überhaupt, Jeffrey, was weißt du schon von diesem Mädchen?«
»Nicht viel. Oberstufenschülerin. Sie war einmal, soweit ich unterrichtet bin, mit deinem anderen Sohn liiert …«
»Ja, deshalb ist meine Wahl auf sie gefallen. Das und der glückliche Umstand, dass sie auf dem Weg zur Schule eine Abkürzung nimmt, und zwar durch ein verlassenes Gelände unserer neuen kleinen Stadt. Eigentlich habe ich sie immer gemocht. Sie ist sympathisch, hat zwar ein wenig verschwommene Vorstellungen vom Leben, aber das gilt ja wohl für die meisten Teenager. Sie ist attraktiv, auf eine frische, unverdorbene Weise. Sie scheint intelligent zu sein – nicht übertrieben, weißt du, nicht phänomenal, aber trotzdem intelligent. Jedenfalls auf dem Weg zu einem guten College. Auch wenn es andererseits schwer zu sagen ist, was für eine Zukunft sie vor sich hat. Nun gibt es natürlich intelligentere, begabtere Kinder, aber Kimberly hat etwas, einen Sinn für Abenteuer. Etwas Rebellisches – ich nehme an, das fand dein Halbbruder an ihr attraktiv –, das macht sie einfach interessanter als die Mehrzahl der schablonenhaften Kids, die dieser Staat heranzüchtet.«
»Wieso erzählst du mir das?«
»Ah, du hast recht. Das sollte ich besser nicht. Wer sie ist,sollte keine Rolle spielen. Dass sie ein Leben, Träume, Hoffnungen und Wünsche hat – was auch immer, das ist wirklich nicht von Belang. Was hat dieses Mädchen, dass du auch nur für einen Augenblick denken kannst, ihr Leben wäre wichtiger als dein eigenes? Als das deiner Schwester und deiner Mutter? Und das Leben wer weiß wie vieler junger Frauen, auf die meine Wahl vielleicht in Zukunft fällt? Ich würde sagen, ich habe dich vor eine denkbar einfache Wahl gestellt. Wenn du sie tötest, rettest du dich selbst. Und als zusätzlicher Anreiz: Du rettest all diese anderen Menschen. Wie gesagt: Du kannst meiner Laufbahn, ja sogar meinem Leben ein Ende setzen. Sie zu töten erscheint in jeder Hinsicht – finanziell, ökonomisch, ästhetisch und emotional absolut sinnvoll. Ein Leben verlierst du, viele andere rettest du dafür. Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Der Kostenaufwand ist höchst bescheiden.«
Peter Curtin lächelte seinen Sohn an. »Jeffrey, sieh mal, du tötest sie, und du wirst berühmt! Du bist ein Held. Ein Held für diese moderne Welt, in der wir leben. Nicht ohne Fehler, aber ein tatkräftiger Mann. Du wirst von Küste zu Küste gefeiert werden, und zwar von praktisch allen, außer vielleicht den nächsten Angehörigen der kleinen Kimberly. Doch deren Protest dürfte leise ausfallen. Falls sie überhaupt jemand hört, was fraglich ist, wenn man bedenkt, wie gekonnt die Kerle, die diesen Staat regieren, Unannehmlichkeiten unter den Teppich kehren. Deshalb kann ich wirklich nicht verstehen, wieso du auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zögern kannst.«
Jeffrey sagte nichts.
»Es sei denn …«, fuhr sein Vater langsam fort, »… du hättest Angst vor dem, was du vielleicht über dich selbst rausfinden könntest. Das könnte allerdings ein Problem darstellen. Gibt es irgendwo tief in dir eine Tür, die du lieber nicht aufmachenmöchtest? Nicht einmal einen
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