Das Rätsel
hast.
»Die Toilette!«, erinnerte sie sich laut.
Sie hatte nicht gespült. DNA. Fingerabdrücke. Sie kehrte in die Kabine zurück, schnappte sich die Rolle Papier und wischte das Türschloss ab. Dann drückte sie den Hebel. Während das Wasser gurgelte, trat sie heraus und betrachtete die Leiche. Plötzlich war sie eiskalt und gefasst.
»Du hast es verdient«, sagte sie. Auch wenn sie nicht sicher war, ob sie es glaubte, schien es doch ein ebenso passendes Epitaph zu sein wie jedes andere. Sie zeigte auf die freiliegenden Weichteile des Mannes.
»Was hattest du damit vor?«
Susan zwang sich, noch einmal die Wunde im Hals des Mannes anzuschauen.
Was war passiert? Ein Rasiermesser, vermutete sie, oder einJagdmesser vielleicht, das die Halsschlagader quer durchtrennt hatte.
Aber wieso? Und wer?
Bei diesen Fragen beschleunigte sich erneut ihr Puls.
Behutsam, als gelte es, keine schlafenden Hunde zu wecken, öffnete sie die Toilettentür und trat in den Flur. Sie sah einen einzelnen Teilabdruck einer Sohle in rotbraunem Blut am Boden. Als sich die Tür hinter ihr schloss, machte sie einen großen Schritt darüber und vergewisserte sich, dass sie nicht dieselben verräterischen Spuren hinterließ. Ihre Schuhe waren sauber.
Susan stolperte den Flur entlang und bog nach rechts zu der Doppeltür ab, die in die Bar zurück führte. Sie lief schneller, zwang sich dann aber, nicht zu hetzen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie zum Barkeeper gehen sollte, damit er die Polizei rief. Doch so schnell der Gedanke kam, so zügig war er wieder verschwunden. Es war etwas geschehen, an dem sie einen Anteil hatte, auch wenn sie nicht sagen konnte, wie und warum.
Sie legte eine Eisschicht über ihre Emotionen und betrat die Bar.
Dort schlug ihr lautes Stimmengewirr entgegen. In den wenigen Minuten, die sie weg gewesen war, hatte sich der Raum gefüllt. Sie warf einen Blick auf ein paar Frauen und dachte, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis eine von ihnen ebenfalls nach hinten verschwand. Sie ging die Reihe der Männer durch.
Welcher von euch ist ein Mörder?, fragte sie sich.
Und warum?
Nicht einmal ansatzweise wollte sie über eine Antwort nachdenken. Sie wollte fliehen.
Ruhig und stetig, fast auf Zehenspitzen, um möglichst keineAufmerksamkeit zu erregen, strebte sie dem Ausgang zu. Sie schloss sich einer Gruppe Geschäftsleute an, die das Lokal gerade verließ, und tat so, als gehörte sie dazu, bis sie in die Nacht hinaustrat.
Susan schnappte nach der schwarzen Luft, als wäre sie Wasser an einem heißen Tag. Sie hob den Kopf und warf prüfende Blicke die Seiten des Gebäudes entlang, in dem sich die Bar befand. Langsam ließ sie den Blick von einer Laterne zur nächsten wandern, die ihr schwaches gelbes Licht auf den Parkplatz warfen. Sie suchte nach Überwachungskameras. Die besseren Lokale hatten sie innen wie außen installiert. Doch Susan konnte keine entdecken und murmelte ein leises Dankeschön an die knauserigen Eigentümer des Last Stop Inn, wo immer sie gerade waren. Sie überlegte, ob vielleicht eine Kamera ihre Begegnung mit dem Mann an der Bar aufgezeichnet hatte, bezweifelte es dann aber. Wie dem auch sei – falls es ein solches Video gab, dann würde die Polizei sie früher oder später ausfindig machen, und sie konnte ihnen das Wenige sagen, das sie wusste. Oder auch lügen und nichts verraten.
Ohne es zu merken, hatte sie ihre Schritte auf dem Parkplatz beschleunigt, bis sie ihren Wagen erreichte. Sie schloss die Tür auf, warf sich hinters Lenkrad und stieß den Schlüssel in die Zündung. Sie wollte den Gang einlegen und so schnell wie möglich davonbrausen, doch erneut brachte sie ihre Emotionen unter Kontrolle und verlangte von ihnen, sich dem praktischen Menschenverstand und dem Bedürfnis nach Sicherheit zu beugen. Bewusst langsam ließ sie den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Sie sah in die Spiegel und fuhr aus ihrer Lücke. Immer noch unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, trat sie in gemächlichem Tempo die Flucht an. Dabei war sie sich nicht bewusst, dass ein professionellerVerbrecher ihre ruhige Hand am Steuer und die Coolness ihres Rückzugs bewundert hätte – erst Stunden später kam ihr dieser Gedanke.
Susan fuhr eine Viertelstunde, erst dann hatte sie das Gefühl, sich von dem Mann mit der aufgeschlitzten Kehle weit genug entfernt zu haben. Im selben Moment übermannte sie eine bleierne Erschöpfung, die ihr in jede Pore drang, und sie hatte das
Weitere Kostenlose Bücher