Das Rätsel
die Schultern, um jeden Moment zu schießen. Doch der dritteTritt ließ auf sich warten. Stattdessen hörte sie, wie plötzlich die Haupttür aufging und mit einem Knall wieder zufiel.
Es trat kurze Stille ein, bevor sie den Mann sagen hörte: »Wer zum Teufel sind Sie denn?«
Es kam keine Antwort.
Stattdessen erklang ein langgezogenes Ächzen, gefolgt von einem Gurgeln und dann einem Zischen. Danach ein Krachen und Tritte – wie ein kurzer Stepptanz, der nach Sekunden vorbei war. Einen Moment herrschte Stille, dann hörte sie ein langgezogenes Blubbern, als ob aus einem Ballon die Luft entwiche. Sie konnte nichts sehen und war nicht bereit, ihre Schießstellung aufzugeben, um sich zu bücken und durch den Türspalt zu spähen.
Sie hörte ein paar kurze, angestrengte Atemzüge. Dann lief Wasser, und wenig später wurde der Hahn mit einem Quietschen zugedreht. Dann hörte sie Schritte und zuletzt, wie jemand ohne Hast die Tür aufmachte und hinter sich schloss.
Die Pistole im Anschlag, wartete sie weiter und versuchte, sich auszumalen, was geschehen war.
Sie hatte das Gefühl dafür verloren, ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, seit die dritte Person die Damentoilette betreten und wieder verlassen hatte. Sie wusste nur, dass Stille eingetreten war und dass sie keinen Laut mehr hörte außer ihrem eigenen beschleunigten Atem. Vom Adrenalin dröhnte ihr der Kopf, als sie schließlich die Waffe sinken ließ und nach dem Riegel griff.
Sie schob ihn langsam beiseite und zog behutsam die Tür auf. Zuerst sah sie die Füße des Mannes. Sie waren nach oben gerichtet, als hätte er sich auf den Boden gesetzt. Er trug teure braune Lederschuhe, und sie fragte sich, wieso ihr das nicht früher aufgefallen war.
Susan trat aus der Kabine und drehte sich zu dem Mann um. Sie biss sich fest auf die Lippe, um den Schrei zu unterdrücken, der sich in ihrer Kehle staute.
Der Mann war in dem kleinen Zwischenraum zwischen den beiden Becken in sitzender Stellung zusammengesackt. Er hatte die Augen geöffnet und starrte sie mit einem ungläubigen Staunen an. Sein Mund klaffte weit offen.
Seine Kehle war zu einem breiten, rotschwarzen Hautspalt aufgeschlitzt – wie ein besonders sarkastisches zweites Grinsen.
Etwas Blut hatte sich auf dem weißen Hemd gesammelt, die Brust verschmiert und dann unter ihm eine Lache gebildet. Sein Hosenlatz war offen und seine Genitalien entblößt.
Susan taumelte von der Leiche zurück.
Schock, Angst und Panik durchzuckten sie wie Stromschläge. Sie begriff kaum, was geschehen war, und noch weniger, was sie machen sollte. Eine Sekunde lang starrte sie auf die Automatik in ihrer Hand, als hätte sie vergessen, dass sie davon Gebrauch gemacht hatte, als hätte irgendwie ihr Schuss den Mann umgebracht, der, vom Tod überrascht, mit leerem Blick am Boden saß. Als sie eine Woge der Übelkeit überschwemmte, stieß sie die Pistole in ihre Handtasche. Sie schnappte nach Luft und kämpfte den Brechreiz herunter.
Susan war sich nicht bewusst, dass sie wie vom Schlag getroffen zurückgezuckt war, bis sie die Wand im Rücken spürte. Sie befahl sich, die Leiche anzusehen, und merkte erst da zu ihrem eigenen Staunen, dass sie die ganze Zeit darauf starrte und ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, sich Details einzuprägen, und hatte plötzlich den Gedanken, ihr Bruder wüsste jetzt ganz genau, was zu tun war. Er hätte richtig gedeutet, was passiert war und warum und wie dieser Mord sich in die entsprechendeStatistik und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einordnete. Von solchen Gedanken wurde ihr nur noch schwindeliger, und sie presste den Rücken an die Wand, als hoffte sie, die Mauer zu durchstoßen und nach hinten zu entkommen, statt an der Leiche vorbei zu müssen.
Sie starrte weiter auf die Stelle. Die Brieftasche des Mannes lag offen neben ihm, und in ihren Augen sah es so aus, als hätte sie jemand geplündert. Ein Raubüberfall?, fragte sie sich. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück, als hätte sie eine Giftschlange vor sich. Sie mahnte sich, nichts anzufassen.
»Du bist nicht da gewesen«, flüsterte sie.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die sich am Rande der Panik überschlugen. Nach wenigen Sekunden merkte sie, dass sie ihre Emotionen wieder ein wenig unter Kontrolle hatte. Du bist kein kleines Kind. Das ist nicht der erste Tote, den du siehst, auch wenn du noch keinen so hautnah erlebt
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