Das Regenmaedchen
Mutter lächelte in der Erinnerung, stand auf, ging
ins Haus. Als sie zurückkam, legte sie ein Blatt Papier auf den Tisch. Eine
Kopie. DIN A4. Marie in Schwarzweiß, kopiert im Profil.
Das, dachte Franza, ist sie also gewesen ohne Tod im
Gesicht. Geschlossene Augen, wohl um dem scharfen Licht des Kopierers zu
entgehen, geschlossener Mund, die Ränder ein wenig hochgezogen zu der Andeutung
eines Lächelns, Haare, die sich an den Spitzen kringelten. Auf der Rückseite
des Blattes ein paar Sätze, rasch hingeworfen in einem Augenblick des Glücks. Werde
studieren. Bin verliebt. Springe mit den Regentropfen um die Wette. Komme bald. »Das ist mit der Post gekommen«, sagte Maries Mutter. »Gestern. Ich
hab mich so gefreut. Was ist nur passiert?«
Herz kam zurück zum Tisch und setzte sich. »Wir wissen es
noch nicht«, sagte er.
»Aber wir finden es heraus. Ganz sicher. Ich verspreche es
Ihnen.«
Franza schaute überrascht hoch. Ihre Blicke begegneten
sich. Sie hob die Augenbrauen. Versprechen? Das traute er sich? Er nickte,
winzig nur, kaum sichtbar.
Franza stand auf. Es war spät geworden. Zwanzig nach
sechs. »Wir brauchten ein Foto«, sagte sie. »Hätten Sie wohl eines, das Sie für
einige Zeit entbehren können?«
Die Frau nickte, stand auf, ging ins Haus. Während sie
warteten, schauten sie hinaus in die Felder. Franza sehnte sich nach Regen.
Als sie das Foto sahen, dachte Franza an Ports
nachdenklichen Blick, mit dem er Marie beschrieben hatte. Alles, was er gesagt
hatte, traf zu, und wieder spürte sie diesen winzigen Stachel und eine feine,
kleine ...
»Vielen Dank, Frau Gleichenbach«, sagte sie. »Wir halten
Sie auf dem Laufenden.«
Sie wandten sich zum Gehen. »Kommt Ihr Mann nicht nach
Hause?«, fragte Franza.
»Nein«, sagte Frau Gleichenbach. »Schon lange nicht mehr.«
Franza nickte. Was ist das Leben wert, dachte sie. »Aber
sollte nicht jemand bei Ihnen sein? Können wir Sie denn alleine lassen?«
»Ja«, sagte Frau Gleichenbach. »Ja. Natürlich können Sie
das. Ich weiß ja jetzt, wo sie ist, die Marie. Und jetzt kann ihr ja nichts
mehr geschehen.«
Franza hatte Nüsse gekauft, Mandelsplitter,
Lebkuchengewürz. Nun stand sie in der Küche und rollte Teig aus. Die ersten
Bleche hatten den Backofen bereitsverlassen, es duftete nach Honig und Zimt, im
Türrahmen stand Max und biss in einen mit Schokolade glasierten Lebkuchenstern.
»Schmeckt gut«, sagte er.»Wie immer.«
Sie nickte flüchtig. »Hast du von Ben gehört?«
»Nein«, sagte er. »Warum? Machst du dir Sorgen?«
Sie drehte sich um, fuhr sich mit dem Handrücken über die
Stirn, zuckte die Schultern. Was war das Leben wert? »Ist wohl nicht nötig,
oder?«
Er kam näher, zupfte sich Teig aus der Schüssel, schaute
sie kopfschüttelnd an.
»Nein«, sagte er. »Er ist erwachsen und ein paar Tage auf
Urlaub. Das hat er mir doch gesagt. Das hab ich dir doch erzählt. Was soll also
sein?«
Sie zuckte erneut die Schultern, fühlte sich hilflos. Was
hatte Maries Mutter gesagt? Dass sie jetzt wüsste, wo ihr Mädchen sei?
Wenigstens das.
»Er hat das Handy nicht an«, murmelte sie. »Ich kann ihn
nicht erreichen.«
»Aber er hat es doch nie an! Wahrscheinlich hat er's
verloren. Wäre nicht das erste Mal.«
Sie nickte unschlüssig. »Ja. Wahrscheinlich.«
Er nahm sich eine Tasse kalten Kaffee, der noch vom
Frühstück übrig war. »Wir waren doch auch nicht erreichbar, als wir damals
durch Europa getrampt sind«, sagte er. »Da gab es keine Handys. Und wir waren
jünger. Und unsere Eltern sind auch nicht ausgeflippt vor Sorge. Ich glaube,
dir ist dein Beruf im Weg.« Franza rollte Teig aus. Es war kurz nach
Mitternacht. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie. Max nahm sich ein
letztes Stück Backwerk und steckte es sich in den Mund.
»Natürlich hab ich recht«, sagte er. »Außerdem arbeitest
du zu viel. Und ich auch. Und darum gehe ich ins Bett. Es ist kurz nach
Mitternacht.«
Bens Zimmer bedurfte dringend einer Lüftung. Franza kippte
das Fenster und sammelte die Wäsche ein, die verstreut auf dem Boden lag. Alles
wie immer.
Zurück in der Küche räumte sie langsam das schmutzige
Geschirr in die Spülmaschine, machte die Arbeitsplatte sauber, räumte das
Gebäck fort. Es war kurz vor eins.
Sie setzte sich ans Fenster und starrte hinaus in die
Dunkelheit. Im Haus war es still. Sie dachte den Tag durch, immer wieder von
vorne. Das Mädchen noch namenlos auf Borgers Tisch. Dann Ports Anruf und ein
Name. Dann
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