Das Regenmaedchen
Auto,
läuteten. Eine Frau öffnete, stand schweigend in der Tür. Franza schätzte sie
auf knapp vierzig, braune Augen, dunkle Haare, schulterlang, die Spitzen ringelten
sich. Maries ältere Ausgabe.
»Frau Gleichenbach?«
Sie nickte. »Kriminalpolizei«, sagte Franza und versuchte
so behutsam wie möglich zu klingen. »Mein Name ist Oberwieser, das ist mein
Kollege Herz. Wir kommen wegen Ihrer Tochter. Wegen Marie.«
Die Frau nickte, drehte sich um und ging quer durch das
Haus in den Garten zu einer Sitzgruppe, die im Schatten eines Kastanienbaumes
stand. Sie setzte sich und wies flüchtig auf zwei Stühle, Franza und Herz
nahmen Platz. »Ja«, sagte sie, und ihre Stimme verlor sich zwischen den Bäumen.
»Ich weiß, warum Sie kommen.«
Franza fiel ein, dass sie noch nicht gesagt hatte, wie
sehr sie das Geschehene bedauerte, das, was man eben so sagte in solch einer
Situation. »Frau Gleichenbach«, begann sie, »es tut mir sehr leid, aber ...«
Sie kam nicht weiter. Mit einem Ruck wandte die Frau sich
den Ermittlern zu und sagte: »Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich weiß nichts.«
Ihre Augen flackerten, ihre Finger trommelten nervös auf
der Lehne des Stuhls. Herz ignorierte ihren Ausbruch, räusperte sich und setzte
zur ersten Frage an. »Sie haben Marie nicht als vermisst gemeldet. Warum nicht?«
»Ich habe sie nicht vermisst.«
Sie waren überrascht, Franza und Herz, zeigten es aber
nicht.
»Nicht? Ist es Ihnen nicht seltsam vorgekommen, als sie
vorgestern Nacht nicht nach Hause kam und auch gestern den ganzen Tag nicht und
auch nicht in der folgenden Nacht? Haben Sie sich nicht gewundert? Waren Sie
nicht in Sorge? Wir haben sie doch nicht unweit von hier gefunden. Sie war doch
wohl unterwegs zu Ihnen. Unterwegs nach Hause. Oder etwa nicht?« Die Frau saß
zusammengesunken in ihrem Sessel, ihr Gesicht war eine weiße, ausdruckslose
Maske. Als sie ansetzte, um zu reden, zerfloss ihre Stimme in ein wehes Klagen.
Die Ermittler schwiegen, warteten. Schließlich fasste sie sich wieder.
»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich nicht. Nicht unterwegs
zu uns. Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war doch schon lange fort. Sie
hatte uns doch schon lange verlassen. Wir wussten doch nie, wo sie war. Nie.
Einmal da. Einmal dort. Nirgendwo konnte sie lange bleiben. Schon gar nicht
hier. Schon gar nicht bei uns.«
Sie verstummte. Nach einer Weile fuhr sie fort. »Ich weiß
nicht, was das war mit ihr, warum sie so war. Aber dass es so enden musste!«
Wieder Stille. Plötzlich stand sie auf. »Kommen Sie«,
sagte sie. »Kommen Sie mit.«
Sie folgten ihr zurück ins Haus, gingen eine Treppe hoch,
sie öffnete eine Tür. Ein Mädchenzimmer, fein säuberlich zusammengeräumt,
Poster an den Wänden, Bücher im Regal, Vorhänge bauschten sich vor geöffneten
Fenstern. Die Frau ging hin, hüllte sich in den duftigen Stoff. »Ich habe sie
frisch gewaschen«, flüsterte sie, »und gleich wieder aufgehängt. Heute Morgen.
Nachdem ich die Zeitung gesehen hatte. Und die Fenster habe ich geöffnet. Dass
sie es frisch hat. Luftig.«
Wieder zerfiel ihre Stimme in ein Klagen. »Kommen Sie!«,
flüsterte sie schließlich und winkte Franza heran. »Kommen Sie doch. Riechen
Sie. Ist das nicht wundervoll?«
Franza ging hin und strich der Frau leicht über den Arm.
»Ja«, sagte sie, »wirklich. Sie haben recht, Frau Gleichenbach. Das ist
wirklich wundervoll.«
Sie nahm ihre Hände und drückte sie fest. »Wollen Sie mir
nicht Ihre Geschichte erzählen, Frau Gleichenbach? Ihre und Maries? Ich würde
sie gerne hören.« Die Frau nickte, Franza spürte, dass sie sich entspannte.
»Ja«, sagte sie. »Ja. Diese Geschichte. Meine und Maries. Ich dachte, es wäre
vorbei.«
Marie. Sieben. Haargekringel um den Kopf. Eine Hüpfliese.
Liebte Nudeln und Nutellabrote. Ging zur Schule. Mochte die Lehrerin. Lernte
gern. Las.
Rechnete. Eine Hüpfliese.
Mit sieben. Dann lange nicht mehr.
»Wir haben ihn nicht angezeigt«, sagte die Frau. »Er war
doch ihr Großvater. Er hat sie doch geliebt. Anders halt.«
Sie wusste nicht, was er mit Marie gemacht hatte. Marie
hatte ja nichts gesagt, nie, und der Großvater auch nicht. Aber eines Tages war
sie heimgekommen von den Großeltern, und alles war anders gewesen. Sie war anders
gewesen. Jeden Tag ging sie zu den Großeltern. Das musste sein, das war eine
enorme Hilfe. Sie hatten eine Tischlerei mit zehn Angestellten. Da wurde jeder
gebraucht.
Als Marie sieben Jahre alt war, begann die Frau
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