Das Reich der Elben 01
nicht schnell genug reagierten!«
Brass Shelian hob die Augenbrauen. »Eine interessante Interpretation der Geschehnisse«, sagte er und musste sich dabei große Mühe geben, den ironischen Unterton nicht zu deutlich hervortreten zu lassen.
Sommer und Winter wechselten sich ab, und der Bau von Elbenhaven ging sichtbar voran. Bald schon standen die ersten Wehrmauern und Gebäude. Hafenanlagen wurden errichtet, mit Kaimauern und Anlegestellen.
Die Zelte verschwanden nach und nach, und König Keandir zog mit seiner Gemahlin und den beiden Zwillingen in den Palast ein.
Oft stand er hinter den Zinnen von Elbenhaven und blickte auf die Stadt, die die Keimzelle Elbianas sein sollte. Ein Hafen, so wie es ihn nicht einmal in der Alten Zeit gegeben hatte, wie ihm viele Athranor-Geborene bestätigten. Möglicherweise war deren Erinnerung dadurch getrübt, dass sie so lange Zeit überhaupt keinen Hafen mehr gesehen hatten, und vielleicht war dies der Grund, warum ihnen Elbenhaven größer und prächtiger erschien als selbst die legendären Elbenstädte Athranors – aber Keandir war es gleich. Die Elben hatten das Gefühl, mit den Mauern von Elbenhaven etwas wirklich Großartiges geschaffen zu haben – und das gab ihnen den Mut für weitere Herausforderungen.
Die Gebäude und Mauern der neuen Stadt waren prächtig in die felsige Landschaft in Ufernähe eingepasst, sodass man sie aus einiger Entfernung für gewachsen und nicht für erbaut halten konnte. »Man hat sich zweifellos der besseren Eigenschaften elbischer Architektur erinnert«, musste selbst der uralte Fährtensucher Lirandil anerkennen, der immer große Zweifel gehabt hatte, ob die Elben der Herausforderung noch in ästhetischer Hinsicht gewachsen waren. Schließlich war es sehr lange her, dass die Athranor-geborenen Baumeister ihr Handwerk hatten ausüben können – und die Seegeborenen waren diesbezüglich ja vollkommen ohne Praxis.
»Meinen Glückwunsch und meine Anerkennung, mein König!«, wandte sich Lirandil einmal an Keandir, als dieser nachdenklich an den Zinnen stand und hinaus auf das tosende
Meer blickte. »Ich hatte schon befürchtetet, dass aus Elbenhaven lediglich eine elbische Form irgendeiner Barbarensiedlung wird, die möglicherweise ihren Zweck erfüllt, indem sie uns zu wärmen und zu schützen vermag, aber eine Beleidigung für jedes Auge darstellt, dass sie betrachtet.«
»Und das ist Eurem strengen Urteil nach nicht der Fall?«, fragte Keandir schmunzelnd.
»Nein, ganz und gar nicht. Dies ist eine Stadt, auf die wir stolz sein können.«
»Es wird nicht die letzte sein, werter Lirandil. Die Orte, wo wir weitere Häfen an der elbianitischen Küste errichten werden, wurden von unseren Kapitänen bereits ins Auge gefasst. Spätestens im nächsten Frühjahr werden die ersten Siedler dorthin aufbrechen.«
»Es liegt wohl in der Natur der Elben, dass sie nicht in zu großer Zahl an einem Ort leben wollen«, glaubte der Fährtensucher.
»Vielleicht eine Nachwirkung der langen Seereise«, meinte
Keandir.
Aber in diesem Punkt war Lirandil anderer Ansicht. »Ich glaube nicht, dass darin der Grund liegt. Schon in Athranor neigten die Elben dazu, sehr verstreut zu leben.«
»Der Ausbreitung unseres Reichs wird das nur entgegenkommen«, war Keandir überzeugt.
Kinderlachen drang an seine Ohren, und er wandte sich vom Meer ab. Er sah Ruwen mit den Zwillingen, die bereits ihre ersten unsicheren Schritte über das Pflaster des inneren Burghofs von Elbenhaven machten.
»Andir und Magolas!«, sagte der König, und ein verklärtes Lächeln erschien auf seinem Gesucht. »Sie sind die Zukunft…«
»Sie entwickeln sich erstaunlich schnell«, meinte Lirandil.
»In der Alten Zeit war es üblich, dass Elbenkinder im
Durchschnitt hundert Winter brauchten, um erwachsen zu werden. Aber deine beiden Sprösslinge können es offenbar gar nicht abwarten, groß zu werden.«
»Keiner von ihnen will hinter dem anderen zurückstehen«, glaubte Keandir. »Sie haben bereits damit begonnen, einzelne Worte zu sprechen.«
»Viele Elbenkinder sind in den letzten Sommern geboren worden«, sagte Lirandil. »Mehr als in all den letzten Zeitaltern zusammen.«
Keandir nickte. »Eines Tages werden die Zwischenland- Geborenen die Mehrheit sein. Sie können sich mit vollem Recht als Elbianiter bezeichnen – als die Bewohner Elbianas, deren Heimat dieses Land ist.«
Damit wandte sich Keandir ab und ging zu Ruwen und den
Zwillingen.
Von dem Feuermal, das Magolas’ Kopf zeichnete, war nichts
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