Das Reich der Elben 01
zu sehen. Ruwen achtete sehr darauf, dass dieser Makel vom Haar des Jungen bedeckt war, und ließ es aus diesem Grund lang wachsen, obwohl es in seinem Alter eigentlich üblich war, es kurz zu scheren. Als Keandir sie einmal darauf ansprach, hatte sie gesagt: »Es ist nun mal Teil unserer Art, dass wir nach Vollkommenheit streben, Kean. Das ist unser Schicksal.«
»Welches Schicksal auch immer für uns gegolten haben mag, es existiert nicht mehr«, hatte Keandir erwidert. »Es bindet uns nicht mehr, weil ich seine Fesseln zerschlug. Und vielleicht müssen alle in Zukunft Makel der einen oder anderen Art akzeptieren. Sowohl an uns selbst als auch an jedem anderen. Und vor allem an unseren Kindern. Dies ist kein zeitloses Nebelmeer, in dem uns nichts weiter zustoßen kann als der Lebensüberdruss, von dem es keine Heilung gab. Dies ist Elbiana – ein wildes Land, das uns mehr prägen wird, als wir es bisher auch nur erahnen.«
»Ich kann nicht aus meiner Haut, Kean. Ich bin nun einmal eine Elbin, und das Trachten nach Harmonie und Gleichmaß wurde mir in die Wiege gelegt. Aber Magolas…«
»Magolas entspricht nicht der Harmonie? Willst du das damit sagen?«
»Es ist, wie es ist, Kean. Vielleicht hat sich bereits sehr viel schneller ein neues Netz des Schicksals herausgebildet, als Ihr dachtet.«
Keandir hatte diese Unterredung mit seiner Gemahlin noch gut in Erinnerung, als er in die Knie ging und die Arme ausstreckte. Die beiden Jungen stolperten mit noch unsicheren Schritten auf ihn zu. Ihre Augen leuchteten freudig erregt. Kurz bevor sie ihren Vater erreichten, gab Magolas seinem Bruder einen Schubs, sodass dieser auf das Pflaster fiel. Magolas warf sich in die Arme seines Vaters, während Andir wütend schrie. Schon im nächsten Moment war Ruwen bei ihm, nahm ihn vom Boden auf und tröstete ihn.
Im darauffolgenden Sommer wurde nördlich von Elbenhaven eine zweite Elbenstadt gegründet – Westgard. Und noch im Herbst brachen mehrere Schiffe auf, um an der Meerenge zwischen West-Elbiana und dem Kontinent die Orte Elralon und Hochgond zu gründen.
Sommer für Sommer breitete sich das Reich der Elben ein Stück weiter aus. Auf dem Seeweg drangen die Elben nach Norden und nach Süden entlang der Küste vor, während die Fortschritte in der Pferdezucht es möglich machten, auch über Land Vorstöße zu unternehmen.
Andir und Magolas wuchsen in diesen Jahren zu aufgeweckten Jungen heran, die sich zwar äußerlich – abgesehen von Magolas’ Feuermal – vollkommen glichen, aber ansonsten sehr verschieden waren. Andir war der
Ruhigere von beiden. Er war oft in sich gekehrt und konnte stundenlang damit verbringen, das Meer zu beobachten oder in den uralten Schriften des Elbenvolks zu stöbern, die in einer großen Bibliothekshalle in Elbenhaven untergebracht waren. In seinem vierten Sommer erlernte er das Lesen fast wie von selbst, und sein Wissensdurst fiel auch den schriftgelehrten Schamanen auf, die in der Bibliothek Dienst taten: Eines Tages überraschte er diese, indem er sie in einer Geheimsprache anredete, die sich ein Elb namens Padarondir der Wie-ein- Wasserfall-Sprechende während der Seereise zum Zeitvertreib ausgedacht und darüber ein Wörterbuch verfasst hatte. Schon bald packte Andir sogar der Ehrgeiz, auch die Geheimsprache der Alten Heiler zu erlernen; vor vielen Epochen waren einige unter ihnen der Ansicht gewesen, dass in falsche Hände geratenes Heilerwissen nur Schaden anrichten könnte, und daher hatten sie sich dieser Sprache bedient.
Sein Bruder Magolas hingegen tat alles, um möglichst rasch die Kampftechniken eines Kriegers zu erlernen. Gespannt hörte der Junge zu, wenn die Kapitäne Isidorn, Ithrondyr oder Garanthor, von ihren Entdeckungsfahrten zurückgekehrt, berichteten, was sie gesehen und erlebt hatten. Gleiches galt für die Mitglieder der Expeditionen ins Inland, die zunächst ganz Hoch- und West-Elbiana erforschten, bevor sie in Mittel- Elbiana bis zum östlichen Arm des Flusses Tir vordrangen.
Doch so unterschiedlich die Interessen der beiden Elbenjungen zunächst auch sein mochten, so blieben sie doch stark aufeinander bezogen. Wenn der eine etwas bekam, wollte der andere das Gleiche oder etwas noch Besseres. Und wenn einer von ihnen etwas erlernt hatte, so ließ der andere nicht locker, bis er dieselbe Fähigkeit und dasselbe Wissen auch erworben hatte. So verbrachte Magolas unzählige Stunden mit Andir in der Bibliothek und erlernte die Schriftsprache nur wenig später als sein
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