Das Reich der Elben 01
immer meine Zweifel an den Geschichten über die Menschen. Aber ich wäre andererseits niemals so töricht, an Eurem Wort oder Eurer Auffassungsgabe zu zweifeln, werter Kapitän Ithrondyr. Lasst Brass Shelian all Eure Angaben mit den Schriften noch einmal vergleichen, vielleicht erlangen wir dann Gewissheit.«
»Das werde ich ganz gewiss tun«, versprach Ithrondyr, dessen Augen vor Begeisterung leuchteten. Keandir konnte diese Begeisterung noch nicht so ganz nachvollziehen. Was mochte es sein, was den Kapitän hinsichtlich der Tagoräer so faszinierte?
»Mir ist sehr wohl bewusst, welche Geschichten aus der Alten Zeit über die Menschen in Umlauf sind«, sagte Ithrondyr. »Ehrlich gesagt, ich selbst habe bis zu meiner Reise nach Tagora nicht wirklich geglaubt, dass es überhaupt jemals Menschen gegeben hat – obwohl Prinz Sandrilas ja offenbar einst sein Auge im Kampf gegen diese Rasse verlor. Doch Ihr wisst es selbst, mein König: Bei den Athranor-Geborenen vermischen sich manchmal Erinnerung und Legende, sodass sie häufig selbst nicht wissen, was von dem, woran sie sich zu entsinnen glauben, wirklich geschehen ist und was nicht.«
Da hatte Ithrondyr leider recht, wie Keandir wusste. Desto älter ein Elb wurde, desto mehr verblasste die Erinnerung an seine frühen Tage, mischte sich mit Geschichten und mit Mythen, und er konnte schließlich kaum mehr unterscheiden zwischen Wahrheit und Legende. Mit Demenz hatte dies nichts zu tun; es waren die Jahrtausende, deren Nebel die Erinnerungen immer mehr verhüllten, und so war nie sicher, ob derart alte Elben wie Prinz Sandrilas oder Fürst Bolandor nicht von einer falschen Erinnerung betrogen wurden, wenn sie beispielsweise von den legendären Menschen sprachen.
»Ich muss meine Meinung hinsichtlich der Menschen jedoch notgedrungen revidieren«, fuhr Ithrondyr fort, »doch frage ich mich auch, ob die Überlieferungen der Alten Zeit nicht recht tendenziös mit ihnen umspringen.«
»Ihr scheint sehr beeindruckt von den Bewohnern dieser Insel zu sein«, stellte König Keandir fest.
»Es könnte sich lohnen, mit den Tagoräern in
Handelsverbindungen zu treten«, meinte Ithrondyr. »Ihre
Kultur ist erstaunlich hoch entwickelt. Trotz ihrer schnellen Sterblichkeit besitzen sie große Bibliotheken, in denen sie ihr Wissen sammeln. Und auch die Fähigkeiten ihrer Seeleute scheinen mir beachtlich und mit den unseren durchaus vergleichbar. Zum Schutz ihrer Städte haben sie gewaltige Mauern errichtet, hinter denen sich gigantische Kampfmaschinen befinden; mit denen können sie riesige Steinbrocken auf den Feind schleudern. Und Armbrüste, so groß wie Pferdewagen, sind in der Lage, ein herannahendes Schiff mit einem armdicken Bolzen auf eine Distanz von fast dreihundert mittleren Schiffslängen zu durchschlagen.«
Die letzten Bemerkungen des Kapitäns ließen den König aufhorchen. »Also haben die Tagoräer ihre kostbar-knappe Lebenszeit in die Entwicklung derart wirksamer Kampfmaschinen investiert, anstatt alles zu genießen, was das Leben in dieser kurzen Spanne zu bieten vermag. Dafür muss es aber einen Grund geben, werter Ithrondyr.«
Kapitän Ithrondyr lächelte. »Ihr macht Euch Sorgen über einen mächtigen Feind, der möglicherweise irgendwo dort unten darauf wartet, seinen Einfluss Richtung Norden auszubreiten, nehme ich an. Ein Feind, der uns irgendwann gefährlich werden könnte.«
»Ist dieser Gedanke denn so abwegig – angesichts dessen, was Ihr mir berichtet habt?«, fragte Keandir.
»Mein König, ich habe den Tagoräern dieselbe Frage gestellt. Und die Antwort war, dass diese Kampfmaschinen gegen ihre eigenen Leute gerichtet waren, so erstaunlich dies für elbische Ohren auch klingen mag.«
»Man wollte Euch doch nicht weismachen, auf Tagora herrsche ein ständiger Bürgerkrieg?«, fragte Keandir erstaunt.
Ithrondyr zuckte mit den Schultern. »Unser Aufenthalt in der Stadt Toban im Norden Tagoras dauerte nicht lang genug, um das letztlich beurteilen zu können. Aber man sagte uns, dass
die Städte Tagoras lange in erbitterte Kriege mit wechselnden Koalitionen verwickelt gewesen wären und sich erst vor Kurzem zu einem geeinten Reich zusammengeschlossen hätten.« Ithrondyr seufzte. Sein Blick zeigte, wie sehr ihn die Erinnerung an diese Insel noch immer gefangen nahm. »Ihr hättet diese Pracht sehen sollen. Ihr solltet selbst dorthin reisen, um Euch ein Bild zu machen.«
»Das werde ich gewiss«, versprach Keandir. »Aber bis dahin wird es noch eine Weile
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