Das Reich der Elben 01
machen?«
»Ich denke nicht.«
»Nun, ich habe eher den Eindruck, dass dieses Schweigen der beiden kein Zeichen für den Bestand ihrer Gemeinsamkeit ist, sondern eher dafür, dass diese – aus welchem Grund auch immer – während dieser Bootsfahrt zerbrach.«
»Wäre nicht auch das der normale Gang der Dinge, Ruwen? Jeder von ihnen muss zu einer eigenen Persönlichkeit heranwachsen. Irgendwann muss es zu einer Trennung kommen.«
Ruwen lächelte ihren Mann an. »Die unerschütterliche Zuversicht, die aus deinen Worten spricht, macht mir Mut. Wahrscheinlich mache ich mir ganz umsonst Sorgen.«
»Gewiss«, sagte Keandir, nahm sie in den Arm und strich ihr zärtlich über das Haar.
Seine Sorglosigkeit hinsichtlich seiner Söhne war jedoch nur vorgetäuscht. In Wahrheit machte er sich Sorgen, seit er zum ersten Mal die Finsternis in Magolas Augen gesehen hatte. Spätestens aber seit dem unerbittlichen Kampf der beiden Brüder in der Halle des Gedenkens vor zwei Jahren war ihm klar, dass sich der Fluch der Finsternis, den er von Naranduin mitgenommen hatte, auf geheimnisvolle Weise auch auf seinen Sohn Magolas übertragen haben musste. Dieselben dunklen Kräfte, die in den Tiefen seiner eigenen Seele wuchsen, waren zweifellos auch in den Jungen gedrungen, auch wenn er sich
nicht erklären konnte, wie das geschehen war. Er fühlte sich Magolas auch näher, denn sie teilten ein Schicksal. Aber gleichzeitig war Magolas für Keandir auch wie ein Spiegelbild seiner selbst, das ihm die Abgründe der eigenen inneren Dunkelheit umso bewusster machte. Lange Zeit hatte Keandir es geschafft, den Gedanken an jene Finsternis, die in ihm und in seinem Sohn war, zu verdrängen. Der Aufbau von Elbenhaven und später der von Westgard waren vordringlich gewesen. Aber nun konnte er nicht länger vor sich selbst leugnen, dass irgendetwas in ihm war – etwas, das ihn beunruhigte. Und es war nicht nur in ihm. Zu qualvoll war das Schaudern geworden, das er immer öfter empfand, wenn er seinen Söhnen begegnete.
Vor Magolas schauderte ihn, weil er in ihm die Schatten seiner eigenen Seele sah. Aber vor Andir schauderte ihm ebenfalls, wenn auch aus genau dem entgegengesetzten Grund. Denn so sehr er sich auch bemühte, er fand beim Älteren seiner Zwillinge keinen vergleichbaren Makel. Weder hatte er je gesehen, wie Finsternis Andirs Augen ausfüllte, noch spürte er bei ihm eine Aura dunkler Magie. Und so führte Andir seinem Vater allein durch seine Existenz Tag für Tag vor, dass es vielleicht doch so etwas wie eine reine Seele geben konnte und die Abstriche, die der König am elbischen Ideal der Perfektion zu machen bereit war, vielleicht voreilig waren.
Hatte er sich nur nicht genug bemüht, die Schatten in seinem Inneren zu tilgen? War er nur zu schwach gewesen, um ihnen auf der Insel Naranduin zu widerstehen und ihnen den Eingang in seine Seele zu versperren?
Auch wenn er annahm, dass diese Dunkelheit schon immer Teil seiner selbst und jedes anderen Elben gewesen war und nur die besondere Magie des Augenlosen sie zum Vorschein gebracht hatte, dann beantwortete das nicht die Frage, wieso
Andir im Gegensatz zu seinem Bruder vollkommen frei davon zu sein schien.
Ruwen hatte in den folgenden Nächten wieder jenen Traum von den beiden Elben, die sich mit den Zauberstäben des Augenlosen Sehers gegenseitig bekämpften. Sie berichtete Keandir davon, und das verstärkte die Sorgen des Königs noch.
Die beiden Jungen gingen sich aus dem Weg, seit sie aus dem Norden zurückgekehrt waren. Andir ließ sich von Branagorn dabei helfen, sich im Reiten zu vervollkommnen, und Magolas verbrachte ganze Tage in der Halle des Gedenkens; oft sah man ihn wie gebannt die Zauberstäbe des Augenlosen Sehers anstarren. Als Keandir ihn dabei antraf und ihn darauf ansprach, entgegnete Magolas nur mit ein paar lakonischen Phrasen, doch den Grund für das Interesse, das er den Zauberstäben entgegenbrachte, nannte er nicht. Dennoch – die Faszination, die sie auf ihn ausübten, war unverkennbar.
Wochen vergingen, dann suchte Andir seinen Vater in dessen Turmzimmer auf, von wo aus der König weit über das Meer und über das zerklüftete Gebiet von Hoch-Elbiana blicken konnte. »Ich muss mit Euch sprechen, Vater«, sagte der Junge. Keandir sah ihn an, hob die Augenbrauen und entgegnete:
»Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe, Andir.«
»Es geht um meinen Bruder Magolas.«
»Geht es auch um das, was während eurer Fahrt nach Norden geschah?«
»Ja«,
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