Das Reich der Elben 01
an. Für ein Kind war dieser Blick von ungewöhnlicher Entschlossenheit und Festigkeit. »Andir hat dir alles verraten, nicht wahr?« Es war keine Frage, die da über Magolas’ Lippen kam, sondern eine Feststellung. Seine Züge veränderten sich. Ein paar gerade Linien, die zu seinem jungen, glatten Gesicht gar nicht passen wollten, fürchten sein Gesicht. Seine Miene verriet eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. »Ich verstehe«, murmelte er. »Ihr habt Angst davor, dass da etwas in mir ist, das sich mit der Magie der
Zauberstäbe verbinden könnte, Vater. Eine Finsternis, die
meine Augen manchmal für kurze Momente vollkommen dunkel werden lässt. Ich habe es selbst in den Spiegeln unserer Wandelhalle gesehen. Und ich habe das Entsetzen in den Augen meines Bruders gesehen, als er es zum ersten Mal bemerkte.« Magolas’ Gesichtsfarbe wurde dunkelrot. Er
schluckte. Es war ihm anzusehen, dass er auf das Äußerste angespannt war.
Keandir machte einen Schritt auf seinen Sohn zu. »Magolas, ich bin nur ein Vater, der voller Sorge um sein Kind ist und nicht möchte, dass es zum Spielball dunkler Kräfte wird, die es nicht zu beherrschen vermag.«
Magolas aber schüttelte den Kopf und hob in einer Geste der Abwehr die Hand. »Nein, Vater, Ihr sorgt Euch nicht nur um mich. Ich habe auch das Entsetzen in Euren Augen gesehen!«
»Magolas…«
»Ihr solltet mich nicht verurteilen und mich nicht als jemanden sehen, in dem die Macht des Bösen schlummert! Denn die gleiche Finsternis habe ich in Euren Augen bemerkt, mein Vater! Nur einen Herzschlag lang, und ich nehme an, dass es niemand mitbekam, der nicht darauf geachtet hat – aber ich sah sie!«
König Keandir wollte seinen Sohn in die Arme nehmen, um ihn zu trösten, aber Magolas wich ihm aus und rannte mit Tränen in den Augen zur Tür hinaus.
9
VIELE WINTER
Fünf Sommer und fünf Winter wechselten Andir und Magolas kein Wort miteinander. Und danach redeten sie nur das Nötigste. Sie gingen sich aus dem Weg, und alle Versuche, sie wieder miteinander zu versöhnen, scheiterten. Für Magolas war es ein unverzeihlicher Verrat, dass Andir seinem Vater von den Ereignissen in den Gewässern vor Naranduin erzählt hatte.
Die beiden Jungen wuchsen zu Männern heran. Ihre jeweiligen Interessen vertieften sich. Andir, der sich immer schon für alte Schriften interessiert hatte, erwarb sich ein Wissen, das ihm selbst unter den Schamanen, Magiern und Schriftgelehrten hohe Anerkennung zuteil werden ließ. Brass Shelian bot ihm an, ihn als Novizen aufzunehmen und zum Schamanen auszubilden. Gleichzeitig machte ihm die schon seit dem Aufbruch aus Athranor völlig zerstrittene und daniederliegende Magiergilde der Elben ein ähnliches Angebot; man war sogar bereit, für ihn einen Passus der Satzung, nach der das Mindestalter eines Gildenmitglieds bei dreihundert Jahren lag, außer Kraft zu setzen.
Andir entschied sich aus verschiedenen Gründen, der Gilde der Magier beizutreten und nicht dem viel besser organisierten Orden der Schamanen. Beide Gruppen widmeten sich zwar der Magie und dem Studium der alten Schriften, aber bei den Schamanen lag der Schwerpunkt ihres Wirkens traditionell auf der Verbindung zu den Jenseitigen, während sich Magier eher der praktischen, diesseitigen Anwendung der Magie widmeten.
»Eure Entscheidung ist bedauerlich«, äußerte Brass Shelian dem Königssohn gegenüber, denn er hatte große Hoffnungen mit Andir verbunden. »Ihr wisst, dass sich das Schamanentum in einer schweren Krise befindet. Die Tatsache, dass sich die Jenseitigen offenbar nicht mehr für unser Schicksal interessieren, hat sicher dazu beigetragen. Inzwischen vertritt man sogar schon die These, dass sich in Wahrheit weder die Namenlosen Götter noch die Eldran von uns abgewandt hätten, sondern der Abbruch der geistigen Verbindung nur der Schwäche von uns Schamanen zuzuschreiben wäre; wir würden einfach nicht mehr die nötigen Kräfte entwickeln können, um den Kontakt zu den Jenseitigen Sphären zu halten.«
»Vielleicht ist an dieser Theorie sogar etwas dran«, meinte Andir. »Die Schwäche des Schamanentums ist nicht zu leugnen, doch bin ich sicherlich nicht der Letzte, der sich wünschen würde, dass sie die Verbindung zu den Jenseitigen Sphären wieder herstellen könnten.«
»Dann werdet Ihr uns helfen?«, fragte Brass Shelian voller
Hoffnung.
Aber Andir schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich widme meine Fähigkeiten lieber dem Aufbau Elbianas als dem Studium der Jenseitigen
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