Das Reich der Elben 01
das große Ziel aufzugeben, die Gestade der Erfüllten Hoffnung?
Die lange Zeit in der Sargasso-See hatte ihn zum Skeptiker werden lassen, und so war sein Glaube an die Gestade der Erfüllten Hoffnung mehr ein verbissenes Festhalten. Als sie damals aufgebrochen waren, vor Urzeiten, da war er überzeugt davon gewesen, dass sie die Gestade der Erfüllten Hoffnung angesichts der weit fortgeschrittenen elbischen Seemannskunst leicht erreichen würden. Doch während der langen Zeit in der
Sargasso-See waren auch in ihm Zweifel erwacht, dass dieses ferne Land überhaupt existierte. Leichte Zweifel zunächst, die jedoch immer größer und drängender wurden. Vielleicht war Bathranor nichts weiter als eine abstrakte Chiffre elbischer Gedankenakrobatik. Etwas, das sich ihre Philosophen als hypothetisches Konstrukt ersonnen hatten und das dann irgendwann für ein reales Objekt ihrer Sehnsüchte gehalten worden war.
Wie oft hatte er den Tag verflucht, da die Elben die Alte Heimat verlassen hatten, um sich ganz dem Erreichen dieses völlig ungewissen Ziels zu verschreiben. Und wie oft hatte er sich gewünscht, den festen Grund, von dem er als Fährtensucher lesen konnte wie in einem offenen Buch, wieder unter den Füßen zu haben.
An die schwankenden Planken eines Elbenschiffs hatte er sich trotz der langen Zeit auf See einfach nie gewöhnen können. Und trotz aller Anstrengungen, sie zu lernen, waren die Zeichen des Meeres für den Fährtensucher immer ein Rätsel geblieben. Er hatte einfach keinen Bezug dazu gefunden und beobachtete mit neidvoller Verwunderung, wie insbesondere die seegeborenen Elben aus der Färbung des Wassers und den Zeichen des Himmels so leicht zu lesen vermochten wie ein Fährtensucher vom alten Schlag es bei den Zeichen des Landes vermochte.
In seinen von Schwermut geprägten Phasen hatte Lirandil dies als Bestätigung dafür gewertet, dass seine Zeit vorbei war und er sich offenbar nicht mehr an die Gegebenheit der Gegenwart anzupassen vermochte. Eine Aufforderung, dem Drang des Lebensüberdrusses nachzugeben. Hatte er nicht alles gesehen, alles erlebt und alles erfahren? Warum diesen Weg in eine Zukunft fortsetzen, die ihm fremd geworden war?
Große Hoffnungen hatte das Erreichen dieser wie eine
Schattenlinie aus dem Nichts des Nebels auftauchenden Küste
in Lirandil geweckt. Vielleicht war es das Beste, dieses real existierende Land zur neuen Heimat zu erklären, anstatt einer Chimäre nachzujagen, die vielleicht unerreichbar war.
Eine freudige Zuversicht, die Lirandil selbst am meisten erstaunte, hatte ihn für einige Zeit gepackt. Doch dies war nur ein Strohfeuer der Hoffnung gewesen, mehr nicht, wie sich bald herausstellen sollte. Denn diese Zuversicht war längst neuer Skepsis gewichen. Lirandil glaubte nicht, dass dieses von Nebelbänken umwaberte Land voller Schattengeschöpfe und finsterer Magie wirklich zur neuen Heimat der Elben werden konnte. Dem war selbst eine ungewisse Zukunft auf schwankenden Schiffsplanken vorzuziehen, wie er fand.
»Geht Ihr voraus, Lirandil!«, sagte Prinz Sandrilas.
Dieser nickte nur. Große Worte waren nicht die Sache des Fährtensuchers. Er galt als schweigsam und pflegte sich, wenn überhaupt, nur sehr knapp zu äußern.
Sandrilas folgte ihm. Thamandor der Waffenmeister und Merandil der Hornbläser bildeten die Nachhut. Beinahe lautlos und nach der leichtfüßigen Art der Elben bewegten sie sich vorwärts.
Sandrilas hatte bereits vor einiger Zeit einen befremdlichen Geruch bemerkt. Einen Geruch, der ein altes Grauen berührte, das irgendwo tief in seiner Seele verborgen lag. Ein Schrecken, an dessen Existenz der einäugige Elbenprinz nur ungern erinnert wurde.
Lirandil der Fährtensucher drehte sich kurz um, während Sandrilas stehen blieb, und da roch auch er es: den Geruch von verbranntem Fleisch, gemischt mit einer Nuance, die auf eine grauenerregende Art und Weise sehr vertraut war.
Erschreckend vertraut…
Der Fährtensucher wechselte einen Blick mit dem
Einäugigen, und jeder wusste vom anderen, dass dessen
empfindsame Sinne dasselbe wahrgenommen hatten. Es brauchte nicht ein einziges Wort darüber verloren zu werden.
Was für ein Schrecken mochte sie im Lager der Geflügelten erwarten? Sandrilas legte eine Hand um den Schwertgriff. Geduckt und wie lautlose Schatten schlichen sie sich an das Lager heran.
Es war kein gewöhnliches Feuer, das dort brannte, das erkannte Sandrilas gleich auf den ersten Blick. Es war blendend weiß, und selbst ein furchtloser
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