Das Reich der Sieben Städte
fleckigen Zähne. »Nichts Geringeres als der Geist von Dryjhna, dessen Umrisse sie mit ihren Händen nachgezeichnet haben – ein Geist, den alle hier gesehen haben, das schemenhafte Versprechen von Feuer.«
Duiker seufzte. »Ich wünschte, ich wäre Zeuge dieser Beschwörung gewesen ...«
»Du willst es sehen? Es kommt noch einmal.«
Der Historiker sah zu, wie die sich bewegenden Hände eine unsichtbare Gestalt zu berühren schienen, und überall dort, wo sie gewesen waren, einen schmierigen Schimmer flackernden rötlichen Lichts zurückließen. Der Lichtschein schien eine menschliche Gestalt zu umgeben, und diese Gestalt wurde allmählich deutlicher: eine Frau, deren Fleisch aus Feuer bestand. Sie hob die Arme, und an ihren Handgelenken schien Eisen aufzublitzen, und dann waren es plötzlich drei Tänzer, als sie herumwirbelte und sich zwischen den Sehern wiegte.
Plötzlich warf der Junge den Kopf in den Nacken. Worte drangen aus seinem Mund, und es klang, als würden tief in seiner Kehle Steine zermalmt. »Zwei Fontänen aus wütendem Blut. Auge in Auge. Das Blut ist das Gleiche, die beiden sind die Gleichen, und salzige Wogen werden über die Küsten der Raraku spülen. Die Heilige Wüste erinnert sich ihrer Vergangenheit!«
Die Erscheinung der Frau verschwand. Der Junge taumelte vorwärts, stürzte dann stocksteif in den Sand. Der Semk-Seher kauerte sich hin und legte ihm eine Hand auf den Kopf. »Er ist zu seiner Familie zurückgekehrt«, sagte der alte Schamane in die Stille des Kreises. »Diesem Kind ist das seltenste aller Geschenke zuteil geworden: die Gnade Dryjhnas.«
Hart gesottene Stammeskrieger begannen zu weinen, andere sanken auf die Knie. Erschüttert zog sich Duiker zurück, als der Ring langsam enger wurde. Er blinzelte sich den Schweiß aus den Augen, dabei spürte er, dass er von jemandem beobachtet wurde. Er sah sich um. Schräg gegenüber stand eine Gestalt, die in schwarze Felle gehüllt war. Sie trug einen Ziegenschädel und hatte die Kapuze hochgeschlagen, sodass das Gesicht im Dunkeln lag. Einen Augenblick später schaute die Gestalt woandershin. Duiker machte, dass er aus dem Blickfeld des Fremden kam.
Er schob sich auf die Zeltklappe zu.
Das Reich der Sieben Städte war eine alte Zivilisation, durchdrungen von der Macht der Vorzeit, in der einst die Aufgestiegenen jede Handelsroute, jeden Trampelpfad, jede längst verschwundene Straße zwischen seit langem vergessenen Orten entlanggeschritten waren. Man erzählte sich, dass der Sand in seinen raschelnden Strömungen Macht hortete, dass jeder Stein Zauberei wie Blut aufgesogen habe und dass unter jeder Stadt die Ruinen unzähliger anderer Städte lagen, älterer Städte, die Ruinen von Städten, die bis ins Erste Imperium zurückreichten. Man erzählte sich, dass sich jede Stadt auf dem Rücken von Geistern erhebe und die Substanz der Geister so dick wären wie Schichten zermalmter Knochen; dass jede Stadt unter den Straßen für immer weinte, für immer lachte, schrie, mit Waren hausieren ging und schacherte und betete und erste Atemzüge machte, die das Leben brachten, und letzte, die den Tod ankündigten. Unter den Straßen gab es Träume, Weisheit, Torheit, Angst, Wut, Kummer, Lust und Liebe und bitteren Hass.
Der Historiker trat hinaus in den Regen; tief sog er die saubere, kühle Luft in die Lungen, während er einmal mehr seinen Mantel eng um sich wickelte.
Eroberer konnten die Mauern einer Stadt erstürmen, konnten jede Menschenseele töten, die in ihr lebte, konnten jedes Stadtgut und jedes Haus und jeden Laden mit ihren eigenen Leuten bevölkern; und sie würden doch nichts anderes regieren als die dünne Oberfläche der Stadt, die Haut der Gegenwart, und eines Tages würden sie von den Geistern unter ihnen zu Fall gebracht werden, und dann würden sie selbst nur eine weitere flüchtige Schicht unter vielen anderen sein. Dies ist ein Feind, den wir niemals besiegen können, dessen war sich Duiker sicher. Doch die Geschichte ist voll von den Erzählungen über jene, die diesen Feind wieder und wieder herausgefordert haben. Vielleicht kann man den Sieg nicht dadurch erringen, dass man diesen Feind überwindet, sondern dadurch, dass man sich mit ihm verbindet, eins mit ihm wird.
Die Imperatrix hat eine neue Faust geschickt, um die unruhigen Jahrhunderte dieses Landes zu zerschlagen. Hat sie ihn einfach als Reserve bereitgehalten, wie eine Waffe, die nur für einen ganz bestimmten Zweck geschmiedet und geschliffen wurde
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