Das Reigate-Rätsel
gefälscht. Sein Name war Evans, aber er hat später einen anderen Namen angenommen, so wie ich es auch getan habe. Heute ist dieser Mensch ein reicher, wohlangesehener Mann im Süden Englands. Er war bereit, sich der Verschwörung anzuschließen, denn es war die einzige Möglichkeit, sich zu retten. Nach kurzer Zeit gab es nur noch zwei Gefangene, die nicht eingeweiht worden waren. Einer von ihnen hatte einen schwachen Verstand, und wir wagten nicht, ihn einzuweihen, und der andere litt an der Gelbsucht und konnte uns deshalb nicht nützlich sein. Es gab eigentlich nichts, was uns wirklich hindern konnte, das Schiff in unsere Gewalt zu bringen. Die Besatzung bestand aus einer Bande von Rowdys, die für diese Reise extra ausgesucht worden waren. Der verkleidete Priester, der regelmäßig in unsere Zellen kam, um uns frommen Beistand zu geben, trug ständig eine große schwarze Tasche mit sich. Jeder nahm an, daß sie voll von religiösen Schriften war. Er besuchte uns so oft, daß wir schon am dritten Tag jeder mit einer Feile, ein paar Pistolen, einem Pfund Pulver und einigen anderen kleinen Waffen ausgerüstet waren. Zwei der Wärter waren von Prendergast bezahlte Agenten, und der zweite Offizier war seine rechte Hand. Auf der Gegenseite befanden sich der Kapitän, zwei Offiziere, zwei Wärter, Leutnant Martin, seine achtzehn Soldaten und der Doktor. Obgleich wir uns sehr sicher fühlten, beschlossen wir, keine Vorsichtsmaßregel außer acht zu lassen. Der Angriff sollte ganz plötzlich in der Nacht geschehen. Es ging jedoch viel schneller, als wir gedacht hatten, und geschah auf die folgende Weise:
In der dritten Woche nach dem Auslaufen des Schiffes kam eines Abends der Arzt zu uns herunter, um nach einem krankgewordenen Gefangenen zu sehen. Der Arzt griff in die Matratze und fühlte plötzlich die Form einer Pistole unter der Hand. Wenn er geschwiegen hätte, hätte er uns auffliegen lassen können. Aber er war ein nervöser kleiner Mann, der prompt laut und überrascht aufschrie und so blaß wurde, daß die Gefangenen gleich wußten, was geschehen war.
Sie packten und knebelten ihn, bevor er noch einen weiteren Laut von sich geben konnte, und ein paar Minuten später lag er gefesselt im Bett. Er hatte vorher die Tür, die zum Deck führte, aufgeschlossen, und wir konnten hindurchstürmen. Zwei der wachthabenden Soldaten wurden sofort niedergeschossen, und ebenso erging es dem Feldwebel, der gelaufen gekommen war, um zu sehen, was der Aufruhr sollte. Zwei weitere Soldaten waren vor den privaten Kabinen postiert, aber ihre Musketen schienen nicht geladen zu sein, denn sie feuerten nicht auf uns und wurden erschossen, als sie versuchten, ihre Bajonette aufzustecken. Wir stürmten weiter zur Kabine des Kapitäns. Doch als wir die Tür aufstoßen wollten, gab es drinnen eine Explosion. Der Priester stand mit rauchender Pistole neben dem Kapitän, dessen Kopf auf die ausgebreitete Karte des Atlantiks gesunken war, die er nun mit Hirn und Blut verschmierte. Die beiden anderen Offiziere waren von der Mannschaft gefangengenommen worden. Damit war der Überfall ausgestanden.
Wir trafen uns in der privaten Kabine, die neben der des Kapitäns lag. Dort machten wir es uns auf den Sofas bequem und freuten uns der wiedergewonnenen Freiheit. Dann entdeckten wir die verschlossenen Wandschränke. Wilson, der falsche Priester, brach sie auf und zog ein Dutzend brauner Sherryflaschen hervor. Wir öffneten die Flaschen, gossen den Sherry in Becher und wollten gerade auf die wiedererworbene Freiheit trinken, als plötzlich ganz unerwartet ein paar Musketen loskrachten. Der Salon war so voller Rauch, daß wir nicht über den Tisch hinwegsehen konnten. Als der Rauch sich verzogen hatte, glich der Raum einem Schlachtfeld. Wilson und acht andere lagen schwerverletzt und sterbend am Boden, während der braune Sherry sich mit ihrem Blut vermischte.
Mir wird heute noch übel, wenn ich an diese Szene denke. Der plötzliche Überfall hatte uns so sehr den Mut geno mmen, und der Anblick um uns herum war so scheußlich, daß wir wohl gerne aufgegeben hätten, wäre nicht Prendergast gewesen. Vor Wut brüllend stürmte er zur Tür, wir anderen, die noch lebten, hinter ihm her. Und nun sahen wir uns dem Leutnant und zehn seiner Leute gegenüber. Das Oberlicht im Salon war einen Spalt-breit offen gewesen, und von dort aus hatten sie auf uns gefeuert. Wir schossen, bevor sie ihre Musketen neu laden konnten. Sie kämpften wie tapfere Männer,
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