Das Reigate-Rätsel
jedermanns Sache, zu helfen, daß die Gerechtigkeit siegt!«
»Dann dürfen Sie sich darauf verlassen, daß sie unschuldig ist.«
»In diesem Falle sind Sie dann schuldig?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Wer hat Colonel James Barklay umgebracht?«
»Die Vorsehung, wenn Sie so wollen. Die Vorsehung hat ihn umgebracht. Aber verstehen Sie bitte eines: Selbst wenn ich ihm den Schädel eingeschlagen hätte, hätte ich wohl alles Recht dazu gehabt. In meinem Herzen hätte ich es liebend gerne getan. Wenn ihn sein eigenes böses Gewissen nicht niedergestreckt hätte, hätte es leicht geschehen können, daß ich sein Blut auf dem Gewissen gehabt hätte. Möchten Sie meine Geschichte hören? Nun gut, ich weiß nicht, warum ich sie nicht erzählen sollte. Für mich gibt es keinen Grund, mich zu schämen.
Sir, Sie sehen, daß mein Rücken jetzt dem eines Kameles gleicht und daß alle meine Rippen im Körper mir verdreht worden sind. Es gab jedoch einmal eine Zeit, da war Corporal Henry Wood der hübscheste Mann in dem ganzen Hundertsiebzehner. Damals lagen wir in Indien in einem Ort, den wir Bhurtee nennen wollen. Barklay, der gestern verstorben ist, befand sich in der gleichen Kompanie wie ich selber. Das schönste Mädchen im Regiment - ach nein, das beste Mädchen war Nancy Devoy, die Tochter eines unserer Oberen. Zwei Männer waren in dieses Mädchen verliebt, aber sie liebte einen - ach, Sie werden lächeln, wenn Sie sich meine verkrüppelte Gestalt ansehen -, sie liebte ihn, weil er so gut aussah. Ich hatte nun zwar ihr Herz gewonnen, aber ihrem Vater war daran gelegen, daß sie Barklay heiratete. Ich war ein Haudegen, ein Kerl, der keine Gefahr kannte. Barklay hatte die bessere Schule besucht, er hatte eine Karriere vor sich. Aber das Mädchen wollte mich und hielt mir die Treue. Ich hätte sie auch bekommen, doch dann brach die Meuterei aus, und wir hatten die Hölle im Land.
Wir, d. h. unser Regiment mit der halben Artillerie, eine Kompanie von Sikhs und viele Zivilisten, darunter viele Frauen, waren in Bhurtee eingeschlossen. Um uns herum lagen Zehntausende von Rebellen, die waren scharf wie ganze Packs von Terriern vor einem Rattenloch. In der zweiten Woche ging uns das Wasser aus. Nun war die Frage, ob wir mit dem General Neill in Verbindung treten konnten, der mit seinen Truppen weiter oben im Land lag.
Hierin lag unsere einzige Chance, denn wir konnten es nicht riskieren, uns mit all den vielen Frauen und Kindern aus dem Kessel herauszukämpfen. Ich meldete mich freiwillig, zu General Neill durchzubrechen und ihm von unserer Gefahr zu berichten. Mein Angebot wurde angenommen. Ich besprach die Einzelheiten mit Colonel Barklay, der das Gelände so gut kannte wie kein zweiter Mann in der ganzen Kompanie. Er zeichnete mir den Weg auf, den ich am besten einschlagen sollte, um durch die Umzingelung hindurch zu kommen. Um zehn Uhr des gleichen Abends machte ich mich auf den Weg. Es galt jetzt, Tausenden von Menschen das Leben zu retten, aber als ich mich so die Mauer herabließ, konnte ich immer nur an die eine denken.
Mein Weg führte durch ein vertrocknetes Flußbett, das mich vor den Augen der feindlichen Wachen schützen sollte. Als ich jedoch um eine Ecke bog, geriet ich direkt mitten in eine Wache von sechs Leuten hinein, die dort im Dunkeln hockten und regel-recht auf mich zu warten schienen. Im nächsten Augenblick hatte ich einen Schlag über den Kopf bekommen und war an Händen und Füßen gebunden. Ja, ich habe wohl einen Schlag auf den Kopf bekommen, aber mein Herz war getroffen, denn als ich wieder zu mir kam, lauschte ich ihren Gesprächen, und dabei erfuhr ich, daß derselbe Mann, der mir die Route ausgesucht hatte, mein eigener Kamarad, mich an die Feinde verraten hatte.
Nun, damit brauchen wir uns jetzt nicht mehr lange aufzuhalten. Sie wissen jetzt, zu welchen Untaten Colonel Barklay fähig war. Bhurtee wurde am nächsten Tag von Neill befreit. Mich aber nahmen die Rebellen mit in ihren Unterschlupf, und es dauerte viele Jahre, bis ich endlich ein weißes Gesicht wiedergesehen habe. Ich wurde gefoltert, versuchte zu entkommen, wurde gefaßt und wieder gefoltert. Sie können ja selber sehen, wie ich inzwischen aussehe. Eine Gruppe von ihnen floh nach Nepal. Sie nahmen auch mich mit, und hinterher gelangte ich in die Nähe von Darjeeling. Diese Rebellen, die mich gefangen hielten, wurden schließlich von Bergleuten umgebracht. Eine Weile wurde ich nun deren Sklave, bis ich ihnen endlich entkam.
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