Das Reliquiar
nur einige wenige Sekunden, aber ich befand mich in einem jämmerlichen Zustand, als hätte ich all das Leid in der Zelle wirklich erfahren. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich zu erholen, und die Erinnerungen brachten mich fast um den Verstand. Noch heute leide ich an Albträumen.« Er legte eine Pause ein und fügte dann hinzu: »Verstehst du jetzt, warum ich dir von der Hypnose abrate? Was mit mir geschehen ist, könnte sich bei dir wiederholen.«
»Weiß Professor Walton von deiner Erfahrung?«
»Ja, beim Vorstellungsgespräch habe ich ihm davon erzählt. Es ist einer der Gründe, warum er mich gebeten hat, sein Assistent zu werden. Er hielt den Umstand, dass
ich selbst eine hypnotische Regression erlebt habe, offenbar für... eine ausreichende Qualifikation.«
»Ich nehme an, du hast dich seither keinem weiteren Experiment unterzogen.«
Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich hatte zu viel Angst. Aber das alles hat mich nicht dazu gebracht, eine ablehnende Haltung den Studien gegenüber einzunehmen. Ich halte sie nach wie vor für sehr interessant und nützlich, weil sie dabei helfen können, gewisse Aspekte unserer Persönlichkeit zu erhellen. So habe ich zum Beispiel immer an Klaustrophobie gelitten, ohne den Grund dafür zu kennen. Jetzt weiß ich Bescheid. Mein Unterbewusstsein erinnert sich an die Gefangenschaft.« Er beugte sich vor. »Versprich mir, dich nicht auf eine solche Regression einzulassen.«
»Nein, tut mir leid. Ich verstehe deine Besorgnis, aber diese Sache reizt mich. Bestimmt passiert mir nichts Schlimmes.« Elena lächelte. »Ich bin sicher, dass ich nie zuvor gelebt habe.«
Venedig, 4. Juli 1204
Der jüdische Händler betrachtete das Kreuz. Es war von großem Wert, aber der Priester ahnte vermutlich nicht, wie viel sich damit verdienen ließ. Verarbeitung, Reinheit und Schliff der Edelsteine – alles deutete auf ein einzigartiges, unschätzbares Objekt hin. »Wirklich schön, das muss man sagen«, meinte er nach einer Weile. »Wie seid Ihr dazu gekommen?«
Der Priester musterte ihn verstohlen und beugte sich dann vor. »Könnt Ihr ein Geheimnis wahren?«
»Natürlich«, erwiderte der Händler neugierig.
»Das Kreuz stammt aus dem Meer. Ein Mitglied meiner Gemeinde, ein Fischer, hat es wie durch ein Wunder in seinem Netz gefunden, und ich habe ihm geraten, es der Pfarrkirche zu schenken.«
»Warum wollt Ihr es verkaufen? Verbietet Eure Kirche nicht den Handel mit geweihten Objekten?«
Gilberto versuchte, seinen Ärger zu verbergen. Er hatte ganz sicher nicht erwartet, von dem Juden daran erinnert zu werden, dass er im Begriff war, eine weitere Todsünde zu begehen. Er erinnerte sich daran, dass er seine fleischlichen Verfehlungen aufrichtig bereute und angemessene Buße tun würde. Doch zuerst brauchte er das Geld. »Es handelt sich um eine sehr delikate Angelegenheit, die ich Euch nicht erklären kann. Wir kennen uns seit Jahren, und ich weiß, dass Ihr diskret seid. Ich weiß auch, dass Ihr für ein solches Objekt gut bezahlt.«
Der Händler seufzte. »Ich werde mein Bestes tun, obwohl der Moment nicht sehr günstig ist. Ihr müsst mir das Kreuz überlassen, damit ich es einigen meiner … treueren Kunden zeigen kann.«
»Es wäre mir lieber, wenn sich das vermeiden ließe«, erwiderte der Priester misstrauisch.
»Wenn Ihr mir das Kreuz nicht überlasst, kann ich es nicht verkaufen.«
Gilberto nickte schweren Herzens. »Ich vertraue Euch, Valmarano, und ich hoffe, Ihr enttäuscht mich nicht. Haltet mich auf dem Laufenden. Dieses... Geschäft ist mir sehr wichtig.«
3
Edinburgh, 7. Oktober 2006
Nicholas und Elena vermieden es zwei Tage lang, über Professor Walton zu sprechen, auch wenn Nicholas sicher war, dass Elena beschlossen hatte, es tatsächlich mit einer hypnotischen Regression zu versuchen. Er war davon überzeugt, dass sie sich, wie Walton glaubte, leicht hypnotisieren ließ, und genau das machte ihm Angst: Er wusste nur zu gut, dass die Regression einem Sprung ins Ungewisse gleichkam und selbst dann Spuren hinterlassen konnte, wenn alles gut verlief.Außerdem warfen Regressionen oft viele neue Fragen auf, anstatt Antworten zu geben.
In der Hoffnung, Elena dadurch von ihrem Vorhaben abbringen zu können, zeigte er ihr alle Schönheiten Edinburghs und seiner Umgebung. Am zweiten Abend brachte er sie in eins der besten und kaum von Touristen besuchten Pubs der Stadt.
Elena war sofort begeistert von der lockeren Atmo sphäre, dem köstlichen Lammbraten und
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