Das Reliquiar
unterdrückte ein Gähnen.
»Es geht um Euren Neffen Ugo«, begann der Mann. »Er... oh, wie furchtbar!«
»Heraus mit der Sprache!«, donnerte Oldoini. »Wovon schwafelst du da?«
»Es ist keine Schwafelei, Eminenz. Gebe Gott, dass es eine Schwafelei wäre, aber leider ist es die Wahrheit. Euer Neffe Ugo ist tot. Ermordet. Man fand seine Leiche in einer Gasse.«
»Ugo... ermordet...«, stotterte der Kardinal verblüfft. Sein Lieblingsneffe Ugo, brutal ermordet! Ihm schwanden fast die Sinne. Er stemmte sich hoch, als wollte er zu seinem geliebten Neffen laufen, sank dann in den Sessel zurück und sackte in sich zusammen.
Der Bedienstete eilte zu ihm und versuchte, ihn zu stützen. »Eminenz! Eminenz!«, rief er aus vollem Hals.
Aber Kardinal Oldoini konnte ihn nicht mehr hören.
Der Schmerz der Familie dauerte bis zur Trauerfeier und der Bestattung der Leiche in der Familienkrypta an. Anschließend ging es drunter und drüber.
Wie eine Barbarenhorde fielen die Verwandten des Kardinals über den Palazzo her und rissen alle Wertgegenstände an sich. Nicht einmal die Privatkapelle blieb von dem Beutezug verschont: Kerzenleuchter, Ostensorien, Kreuze aus Gold und Silber, geweihte Bilder und mit Intarsien verzierte Reliquiare verschwanden mit unerhörter Geschwindigkeit. Der erbittertste Kampf tobte um das prächtige edelsteinbesetzte Kreuz, das Ugo seinem Onkel geschenkt hatte. Zwei Neffen des Kardinals, Simone und Orazio, wurden beim Streit darum fast handgreiflich. Die jungen Männer, beide arrogant und als Raufbolde bekannt, führten eine Zeit lang ein recht lautes verbales Gefecht, und schließlich ging Orazio auf das Angebot ein, anstelle des Kreuzes einen Beutel mit Goldmünzen zu nehmen, den Simone unter dem Bett des Onkels gefunden hatte.
Simone lächelte spöttisch, als er mit dem Kreuz heimkehrte und es in einer Schublade mit doppeltem Boden versteckte. Man konnte nie wissen: Es bestand die Gefahr, dass es sich der immer geldgierige Orazio anders überlegte. Auch die anderen Mitglieder der Familie verdienten nicht mehr Vertrauen: Jeder von ihnen hätte auf den Gedanken kommen können, Simone das Kreuz streitig zu machen. Er musste vorsichtig sein. Das wundervolle
Kreuz gefiel ihm mehr als jedes andere Kleinod, das er jemals gesehen hatte, und er beabsichtigte nicht, sich in absehbarer Zeit davon zu trennen. Bei Bedarf wäre es leicht zu verkaufen gewesen, vielleicht konnte man es sogar als Reliquiar ausgeben. Und er hätte dafür viel mehr bekommen als die wenigen Goldmünzen, mit denen sich der Einfaltspinsel Orazio zufriedengegeben hatte.
Schloss Sandriano, 5. November 2006
»Nicholas!«, entfuhr es Elena, und sie schlang die Arme um seinen Hals.
»He, das nenne ich einen herzlichen Empfang.« Er lachte und drückte sie an sich.
»Wurde aber auch Zeit, dass du kommst...«
»Ich habe ein echtes Abenteuer hinter mir. Ich konnte erst um Mitternacht fliegen, weil an Bord der anderen Maschinen kein Platz mehr frei war. Die Nacht habe ich in einem Hotel in der Nähe von Fiumicino verbracht, und heute Morgen habe ich mir den Leihwagen geholt. Auf der Autobahn herrschte unglaublicher Verkehr, und anschließend... habe ich mich verfahren, muss ich zu meiner Schande gestehen. Gleich zweimal .Wie findet ihr euch in diesem Land nur zurecht?«
»Wir haben uns daran gewöhnt.Wenigstens benutzen wir die richtige Seite der Straße, was ihr erst noch lernen müsst.« Elena lachte und wurde dann wieder ernst. »Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist.«
»Ich gebe zu, dass mich deine Einladung überrascht hat. Was ist denn passiert?«
»Jede Menge, aber darüber reden wir später. Nimm dein Gepäck, ich zeige dir dein Zimmer. Das Essen wird gleich aufgetragen.«
Nicholas’ Ankunft verbesserte die Stimmung im Schloss. Als er den Speisesaal betrat, bestaunte er ihn mit so aufrichtigen Worten, dass selbst Goffredo lächelte. Marta fand den jungen Mann mit dem blonden Haar, den blauen Augen und den Sommersprossen auf Anhieb sympathisch. Als er erfuhr, dass sein Zimmer an das von Elena grenzte, warf er Marta einen Blick zu, der das Bündnis zwischen ihnen besiegelte.
Nach dem Essen servierte Marta den Kaffee im Salon, schenkte den beiden jungen Leuten ein zärtliches Lächeln und ließ sie dann allein.
»Wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen?«, fragte Nicholas mit der für ihn typischen Direktheit.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, erwiderte Elena. »Es ist alles so
Weitere Kostenlose Bücher