Das Rennen zum Mars
bewahrt, doch so revolutionär war das Manöver sicher nicht gewesen – es genügte nämlich, sich vom Planeten beschleunigen zu lassen und im freien Fall einen spiralförmigen Kurs zu verfolgen. Unbemannte Raumschiffe hatten diesen Kniff seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angewandt.
Das Gelände um das Schiff war mit Rover- und Fußspuren übersät, doch Viktor hatte über Funk erfahren, daß die gesamte Besatzung sich im Schiff befand. Die ›Vier vom Konsortium‹ fuhren mit dem Aufzug hinauf. Nach der Anti-Peroxid-Dusche mußten sie die Raumanzüge ausziehen. Eine zweite Dusche wurde zwar nicht ausdrücklich erwähnt, doch war das Standard, nachdem man sich für eine Weile auf der Marsoberfläche aufgehalten hatte. Nach ein paar Stunden im Anzug stank man nämlich wie ein Wiedehopf. Sie sammelten sich auf der Plattform und gingen dann zusammen durch die große Luftschleuse.
Und nun kam der große Augenblick: Nachdem Julia die Begrüßungstour absolviert hatte, war Marc an der Reihe. Sie nahm das Händeschütteln, die chinesischen, russischen, französischen, deutschen und englischen Begrüßungen und Wortwechsel mit der Videokamera auf – eine UN-Versammlung auf dem Mars. Nachdem die Vorstellung für das Publikum der jeweiligen Länder jedoch zu Ende war, kommunizierten die Repräsentanten der verschiedenen Nationalitäten wie immer in gebrochenem Englisch.
Sie erschrak über Lee Chens hageres, zerfurchtes Gesicht. Er war grau geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte – das war in Texas während der Missions-Ausbildung gewesen. Der Haaransatz war zurückgewichen, und er wirkte leicht gebeugt. Sie fragte sich, ob der Flug ihn so mitgenommen hatte. »Sie sehen sehr gut aus!«, log sie.
»Sie aber auch«, gab er die Lüge retour.
Nachdem die Mission nun schon für zwei Jahre andauerte, wußte sie, daß sie eine Woche im Schönheitssalon buchen mußte, um sich wieder herrichten zu lassen. »Wir haben viel zu besprechen«, sagte sie. »Wir beide sind immerhin die einzigen Biologen im Umkreis von achtzig Millionen Kilometern.«
»Ich habe natürlich Ihre Berichte in Nature gelesen.«
Obwohl sie sich schon seit sechs Jahren kannten, legte er nun eine höfliche Reserviertheit an den Tag, die sie irritierte. Aber die GROSSE Entdeckung, ich kann Ihnen sagen …
»Sie werden die Gelegenheit bekommen, die Ergebnisse nachzubereiten.« Welche Untertreibung! Sie suchte nach einer Möglichkeit, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken.
Marc wandte sich an Claudine. »Ach. Freut mich, dich wiederzusehen.«
Sie war Französin und fungierte auf dieser Mission als Pilotin und Ärztin. Julia und die Konsortiums-Besatzung kannten die Airbus-Besatzung vom NASA-Training, doch eine engere Beziehung hatte sich zwischen ihnen nicht entwickelt.
Neben Claudine kam Julia sich immer vor wie ein ungeschickter Kolonistentrampel aus dem amerikanischen Westen. Die Französin wahrte Contenance, was sich bis in die Frisur fortsetzte: das aschblonde Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Die Gestik war anmutig, und die Bewegungen sparsam. Für Julia verkörperte sie die gediegenen Umgangsformen der Alten Welt. Sie hatte den typischen Astronauten-Kleinwuchs, eine schlanke Figur und ebenmäßige Gesichtszüge. Wie alle Astronauten sah sie gut aus und war fotogen.
Sie nickte. »Ihr werdet doch hierbleiben?«, fragte Marc hoffnungsvoll. »Nicht nur zwischenlanden, um die Post zuzustellen?«
Damit erntete er Gelächter, das aber ziemlich nervös klang. »Wir haben vor, hierzubleiben«, antwortete Chen. »Ihr Landeplatz gefällt uns nämlich.«
Er ist ein schlauer Fuchs, sagte Julia sich. Sie warf Marc einen schnellen Blick zu, doch dessen Gesicht war völlig ausdruckslos.
Chen schenkte einen rituellen Begrüßungstrunk ein – Pflaumenwein.
»Auf das erste gesellschaftliche Ereignis auf dem Mars«, sagte Julia.
Alle stießen an, und sie hielt diesen historischen Moment mit der Videokamera fest.
Und worüber unterhalten wir uns als nächstes? Sind wir nun Kameraden im Weltraum oder Konkurrenten? Und wie stehen sie zu Marc? Ob sie ihm den Wechsel zum Konsortium noch nachtragen?
»Was sagt ihr nun zu der Szenerie?«, fragte Marc. »Die Landschaft ist zwar etwas eintönig, aber wir hatten bisher so viel zu tun, daß wir noch nicht dazu gekommen sind, ein paar Blumen zu pflanzen.«
Claudine lächelte. »Wir kennen das schon von den Videos, die ihr zur Erde geschickt habt. Ihr seid Berühmtheiten
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