Das Riff der roten Haie
Hurrikan? Der Besen, mit dem er alles wegfegt, ist gewaltig. Dreihundert Kilometer bedeuten nichts …
Ron schloß die Augen. Vergiß es, flüsterte in ihm eine Stimme. Vergiß es doch! Bring das hier erst mal hinter dich … Genau das würde er tun!
***
»Afa? Wie steht's? Kann ich dir helfen?«
Afa'Tolou nahm den Kopf schräg. Er gab keine Antwort, er musterte Ron nur, und an seinem Gesicht war abzulesen, was er dachte: Ausgerechnet du? Wie willst du helfen? Du bist doch nichts als eine halbe Portion, gerade noch gut zum Zuschauen …
Afa prüfte die Sperre des Drahtseils.
»Afa!« schrie Ron. »Zieh die Käfigleinen an!«
Wieder der gleiche Blick: »Ovaku! Ich habe es dir noch nicht gesagt, aber dieses Mal geht Wa'tau in den Käfig. Wa'tau will das so. Er ist jung. Ich kann's ihm nicht abschlagen.«
Ron zögerte. Afa'Tolou wäre ihm lieber gewesen. Aber es ließ sich wohl nicht ändern. In ihren Gedanken, in ihrer Welt bedeutete Jugend, Herausforderungen zu suchen, Mutproben zu bestehen, je mehr davon, desto besser. Wa'tau wollte keine Perlen. Wa'tau wollte sein ›Mana‹, die Kraft seiner Männlichkeit beweisen.
»Wenn du meinst, Afa. Gut, dann soll Wa'tau in den Käfig.«
Und da stand er schon: Schmal, lang, und in den Augen die ganze Erwartung seiner siebzehn Jahre. Die Sauerstoffflasche war bereits auf seinem Rücken festgeschnallt. Die Maske hing noch um seinen Hals. »Wa'tau!«
»Ja?«
»So geht das nicht. Es ist besser, du ziehst dir den Moltoprenanzug an.«
»Aber das Wasser ist doch warm …«
»Schon. Aber falls irgendwas los ist …«
»Los ist?« Fragend sah der Junge ihn an.
»Falls es Ärger geben sollte, kann das Moltopren schon einen gewissen Schutz bedeuten.«
Wa'tau nickte widerstrebend. Nach fünf Minuten stand er, in schwarz und dunkelblau schimmerndes Moltopren gehüllt, wieder am Käfig.
Afa zog ihn jetzt heran, und Wa'tau stieg hinein.
»Schalte die Kamera gleich ein, Wa'tau. Vor allem den Scheinwerfer. Bei dem schlechten Licht heute kannst du ihn für die Arbeit gebrauchen.«
»In Ordnung.«
Das Licht flammte auf. Afa erhob sich. Sein Daumen deutete zum Himmel: »Eine Stunde, Ovaku. Eine Stunde und keine Minute länger.«
»Eine Stunde, Afa«, bestätigte Ron.
Nun gab es nichts mehr zu sagen. Die Brandung vor der Bucht war lauter geworden. Ron hatte das Gefühl, als zerre die ›Paradies‹ an ihrer Kette wie ein nervöses Pferd.
Wieder ging er hinauf zum Cockpit, holte das Fernglas vom Bord und schickte den Arm zum Teufel, der selbst jetzt, eingelullt von all den Tabletten, kein Verständnis für abrupte Bewegungen zeigte.
Er setzte das Glas an die Augen. Es war äußerst lichtempfindlich, aber die Bucht blieb dunkel wie zuvor. Nur daß die Wasseroberfläche inzwischen kleine Wellen überzogen.
Er streckte den Kopf durchs offene Fenster: »Okay! – Es kann losgehen!«
Der Motor begann zu summen. Afa löste die Bremse. Noch sah er Wa'tau im Käfig stehen. Mit den auseinandergestellten Beinen, den ausgebreiteten Armen und den Händen, die sich um die Eisenstäbe krallten, sah er tatsächlich aus wie ein junger Gorilla.
Dann war Wa'tau mitsamt dem Käfig verschwunden. Es war nun acht Uhr zwanzig.
Die Unruhe in Ron steigerte sich zu einer Spannung, die unerträglicher wurde als die Schmerzen.
Er beugte sich über den Bildschirm. Er sah graue Käfigstäbe, Wasser und wie schon gestern eine Menge Dreck – Staub und Korallenpartikel, die im Licht der Lampe einen trägen Tanz drehten.
Gerade schwamm ein buckliger, orangefarbener Korallenfisch quer vor die Kameralinse. Hier – Wa'taus Rücken. Auch er war eingehüllt in Schmutzschleier, doch in derselben Sekunde erschienen sie klar im Bild: Die ersten Austern!
Und die Hand, die das Messer hielt und immer und immer wieder zwischen den schwarzen Schalen verschwand, war deutlich zu sehen.
Wa'tau arbeitete vollkommen ruhig. Konnte er auch. Im Käfig war er sicher, vielleicht nicht so sicher wie in Abrahams Schoß, dachte Ron, und die Erinnerung an gestern, an den Zirkus, den die Haimonster abgezogen hatten – Riffhaie waren es wohl, aber welches Format sie doch hatten –, die Erinnerung an die ganze Aufregung und Panik saß ihm noch in den Knochen. Nein, gestern hatte er nicht sehr gut ausgesehen, Hendrik hatte wohl recht gehabt. Aber schließlich … was war schon geschehen? Nichts. Nichts als daß er durchgedreht war, unnötigerweise eine Handgranate geworfen und sich damit Hendriks Zorn auf den Hals geladen
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