Das Riff der roten Haie
Ron Edwards waren diese ersten Wochen und Monate auf der Insel die Zeit eines einzigen großen Staunens.
Mühsam gelang es ihm zu begreifen, daß er wie ein Raumfahrer aus einer dieser amerikanischen Weltraum-Serien in einer Welt gelandet war, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Und von der er sich nicht mehr lösen konnte. Sein Schlauchboot hatte er gerettet, das schon, aber sollte er versuchen, mit diesem lächerlichen Gummiding loszupaddeln? Und in welche Richtung?
Zweimal hatte er im Süden, weit draußen im Pazifik, die zarten weißen Kondensstreifen hochfliegender Flugzeuge beobachtet.
Was änderte das schon? Was brachte es, wenn er sich den Kopf zermarterte, wo er sich wohl befand? Vermutlich hatte der Sturm ihn an der Ha'apai-Gruppe vorbei weit in den Norden getrieben. Und wie hieß die Hauptinsel der Ha'apai noch? Richtig. Lifuka. Und Pangai war die Hauptstadt und der Hafen. Seine zerknitterte, vom Seewasser angefressene Karte zeigte es ihm. Weiter im Norden aber durfte und konnte es nur Wasser geben.
Na und, dachte er, was kümmert es mich, ob die Seekarten stimmen!
Er hatte Wichtigeres zu tun. Außerdem: Die anderen ließen ihm keine Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen.
Die anderen – die Dörfler, der Stamm, diese sonderbaren, braunen, stets gutgelaunten Menschen, die auf der Insel wohnten. – ›Tonu'Ata‹ war eines der ersten Worte, die sie ihm beibrachten. Wunderschön war es, dieses Tonu'Ata. Wunderschön auch, geradezu unfaßlich, nach welchen einfachen Regeln sie ihr Leben auf Tonu'Ata führten.
Was Ron am meisten beeindruckte, war nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn aufgenommen hatten, sondern auch die Hilfsbereitschaft, die sie auszeichnete. Alles schien allen zu gehören. Jeder Fischfang wurde geteilt. Wem Yam-Wurzeln, Bananen, Bambussprossen oder Gemüse fehlte, wandte sich an den Nachbarn.
Ron baute die Hütte aus, die sie ihm zugewiesen hatten. Sofort erschienen ein Dutzend Männer und Frauen, um zu helfen, die morschen Tragbalken auszuwechseln, das Dach aus plattgeschlagenen Palmwedeln wieder zu richten.
In der Hütte hatte er eine verbliebene Priestersoutane gefunden, dazu eine stockfleckige Bibel und ein paar Seiten vergilbtes Papier. Darauf standen, in deutlichen, wie gestochen wirkenden Buchstaben, französische Sätze. »Ich heiße Emanuel Richards« lautete der erste Satz, den er nie vergessen würde. Und: »Wer diese Blätter findet, sei gesegnet und hoffe auf den Herrn.«
Es war der Wunsch eines Mannes, der wußte, daß er sterben mußte. Pater Richards, Missionar des ›Ordens vom Leiden Christi‹, war eines Tages mit seinem tongalesischen Steuermann auf Tonu'Ata gestrandet. Der Steuermann fuhr ein paar Tage später auf seine Insel zurück. Als echter Missionar aber hatte Pater Richards beschlossen, bei den Heiden zu bleiben.
Ein Jahr später war er tot.
Das Datum seiner Landung hatte er genau aufgezeichnet: der einundzwanzigste März 1951.
Vor vierzig Jahren also … Und die drei alten Männer, die sich Ron gleich nach seiner Ankunft mit fromm zusammengepreßten Händen genähert hatten, um kreuzschlagend dann ein kaum verständliches Kirchenlied anzustimmen, diese drei alten, zahnlosen Greise waren vermutlich der Beweis, daß Pater Richards doch Seelen auf Tonu'Ata gerettet hatte. – Drei. Trotzdem: Die Insel mußte Kontakt zur Außenwelt haben.
Woher stammten die drei Plastik-Benzinkanister, in denen einer der Fischer sein Kokosöl aufbewahrte? Woher kamen die koreanischen Messer, die Nähnadeln, Beile und Scheren, die in jedem Haus zu finden waren? Wer hatte die Baumwollstoffe gebracht? Es waren hübsch bedruckte Stoffe, aber solche Muster gab es nur auf Tahiti. Und die Nylon-Schiffsleinen, die die Fischer wie ihren größten Schatz hüteten? Ja, und dann diese sonderbaren grauen Plastikperlen, die Frauen, Mädchen und Kinder um den Hals trugen. Bei den Männern hatte er die Perlen nur bei Tápana, dem Häuptling, gesehen. Vielleicht stand der über den Geschlechtern …
»Schibe Decats«, antwortete Tama lächelnd, wenn er sie fragte. Und dazu sagte sie: »Palangi«, was wohl auf ›Ausländer wie du‹ herauslief.
Als er einmal ihrem Bruder Fai'fa einen großen, stählernen amerikanischen Thunfischhaken unter die Nase hielt, sagte der: »Gilbert Descartes.« Und er sagte es in klarem, fast akzentfreiem Französisch.
Gilbert Descartes …
Die Werkzeuge, die Stoffe, auch die Tomaten, die Gurken, die in den Gärten wuchsen, selbst
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