Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
keinen Prüfungen ausgesetzt sein würden“, erwiderte sie freundlich und bot Lea einen Platz an. Der Aufenthaltsraum in der Mission war jetzt fast leer, nur eine schlafende alte Frau und ein sehr dünner und sehr blasser junger Mann teilten sich einen der Tische. Die Schwester setzte sich Lea gegenüber.
„Was hat er denn davon, wenn er uns Prüfungen aussetzt? Macht ihm so etwas Spaß?“
„Du bist jung und voller Energie, mein Kind. Ich bin sicher, in guten Zeiten entlädt sich diese Energie in viel Liebe und Engagement für deine Mitmenschen. Es ist dir nicht vorzuwerfen, wenn sie sich in schlechten Zeiten als Zorn äußert. Gönne dir deinen Zorn von Zeit zu Zeit, aber sieh deinen Mitmenschen nach, dass auch sie nur Menschen sind.“
„Nur Menschen, ha! Wenn Sie wüssten!“
„Du kannst gerne mit mir darüber reden. Dann weiß ich.“
„Was würden Sie tun, wenn Sie merkten, dass der Teufel stärker ist als der liebe Gott? Dass er imstande ist, Ihnen dermaßen einen reinzuwürgen, dass selbst der Allmächtige Sie nicht mehr schützen kann?“
„Ich würde an das Gleichnis von Hiob denken und darauf vertrauen, dass Gott mich nach meinem Tode zu sich nimmt und ich nicht mehr fürchten noch hassen muss.“
„Und wenn er das nicht tut? Wenn er vor dem Teufel kapituliert? Wenn es Lucifer gelingt, Sie und die Ihren mit in die Hölle zu ziehen, und Gott steht machtlos daneben und zuckt mit den Schultern?“
Die Nonne setzte ihre Nickelbrille ab und wischte mit dem Ärmel ihrer Tracht über die Gläser. Als sie die Brille wieder aufsetzte, war das milde Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. „Ich würde dem Bastard alles entgegensetzen, was ich zu bieten habe, um ihm im Namen meines Gottes die Stirn zu bieten, bis das Gute den Sieg davonträgt.“
Lea klappte die Kinnlade herunter. Hatte sie sich verhört? Schon war die nachsichtige Freundlichkeit wieder in die Gesichtszüge zurückgekehrt. Das breite Gesicht strahlte Wohlwollen und Mitgefühl aus.
„Vielleicht habe ich ein unzutreffendes Bild von Ihrem Berufsstand“, murmelte Lea. „Sie scheinen schon viel erlebt zu haben, oder? Es klingt ... nicht sehr theoretisch, wenn Sie so etwas sagen.“
„Meine Eltern waren sehr liebe Menschen, aber schwach in ihren Prinzipien. Sie glaubten, wenn sie vom Judentum zum Christentum konvertierten, könnte ihnen in Deutschland nichts mehr passieren. Sie wechselten einfach ihre Religion wie andere Leute den Anzug, wenn die Mode sich geändert hat. Und die Mode hatte sich geändert. An dem Tag, als ich geboren wurde, öffnete keine drei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt eine Ausstellung ihre Tore. Sie hieß Entartete Kunst .“
„Davon habe ich gehört. Wir haben in Geschichte darüber geredet.“
„Sie hätte meinen Eltern zeigen sollen, dass ihr Opportunismus ihrem Leben weder Sicherheit noch Frieden geben würde, geschweige denn einen Sinn. Sein Fähnchen nach dem Wind zu drehen, gibt dem Leben keinen Sinn, Lea, es nimmt ihm den Sinn. Wofür leben wir, wenn wir nur immer wieder dorthin flüchten, wo wir den geringsten Widerstand vermuten?“
Lea dachte daran, wie auch sie geflohen war. Geflohen vor einer Entscheidung, mit der sie sich überfordert fühlte. Aber wie lange sollte das noch so weitergehen?
„Ich sehe die Rädchen in deinem Kopf rotieren, Kind. Wenn ich damit etwas anstoßen kann, will ich weiter erzählen. Nicht aus eitler Lust an meiner eigenen Persönlichkeit, sondern in der Hoffnung, dir dadurch vielleicht einen Weg aufzuzeigen.“
„Reden Sie. Bitte.“
„Der Krieg war schon fast wieder zu Ende, als meine Eltern endlich merkten, dass sie sich selbst keinen Gefallen getan hatten. Ihre Konvertierung ohne innere Überzeugung hatte ihnen nur etwas genommen, nämlich ihr Gewissen, ihre Überzeugung, ihre Standfestigkeit – aber ohne ihnen etwas dafür zu geben. Die Anpassung, das Leben in Frieden, das Gleichsein mit den Nachbarn – alles Lügen, alles eine Fata Morgana, die an einem Frühlingstag im Jahr 1944 wie eine Seifenblase zerplatzte. Als die Gestapo meine Eltern holte, befand ich mich gerade in den Händen eines deutschen Zollbeamten an der Grenze zu Frankreich.“
„Hat man Sie dort verhaftet?“
Sie lachte leise. „Nein, nein, ich meine das mit den Händen durchaus wörtlich. Ich kauerte in einem Schrankkoffer, den meine Eltern gerade noch rechtzeitig nach Vichy versendet hatten. Diesen Koffer trug ein Zollbeamter und beriet mit seinem Kollegen, ob er ihn
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