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Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)

Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)

Titel: Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Balzter
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sie werden stärker, aber das ist egal, weil es so weit weg ist, alles ist weit weg, ich fliege, die Sonne scheint, und zum ersten Mal seit vielen vielen Monaten bin ich wirklich glücklich, ich dachte immer, es gibt ein Licht am Ende des Tunnels, das hier sieht eher aus wie eine Autobahn, aber vielleicht ist es auch nur der Asphalt dieses Seitensträßchens, und ist nur so groß und riesig, weil ich mit dem Gesicht darauf liege, dieses Gesicht, das einem anderen Körper gehört, einem, über den ich kaum mehr Gewalt habe, weil ich hier oben bin, weg von euch, ätsch, ich bin hier und ihr seid dort, ich fliege, ich fliege zum Himmel ...
    Mit diesem letzten Gedanken verlor sie das Bewusstsein.
     
    Schwester Anna betrachtete lange mit prüfendem Blick das kleine, jetzt leere Fläschchen, das Julio Palazuelo ihr hatte zukommen lassen. Sie hielt es mit Daumen und Zeigefinger wie ein ekliges Insekt.
    Das Mädchen hatte trotz seiner angeblichen Paranoia keinerlei Verdacht geschöpft, nicht einmal, als sie sich verplappert und es beim Namen genannt hatte, den sie doch unmöglich hätte wissen können.
    Sie holte aus und schleuderte das gläserne Gefäß mit voller Wucht gegen die Wand ihres kleinen Bürozimmers.
    Palazuelo. Was für ein Bastard. Er hatte sie dazu gebracht, die Sünde aller Sünden zu begehen. Mord an einem unschuldigen Kind.
    Wie hatte es soweit kommen können?
    Als sie sich nach dem Krieg den Franziskusschwestern der Familienpflege anschloss, begann sie ihre geistliche Laufbahn als junge, idealistische Nonne, die den Widrigkeiten des Lebens getrotzt und ihren Trost und Sinn im Glauben gefunden hatte. Eine Nonne, wie Anna sie vorhin gegenüber der armen Lea beschrieben hatte.
    Es begann schleichend und ganz harmlos, wie alle katastrophalen Entwicklungen. 1959 begann Anna ihre Arbeit in dem vom Orden neu gegründeten Altenheim in Essen und lernte neben vielen anderen angestellten Laien auch den Nachtportier kennen. Es war ein junger Mann Anfang zwanzig, dessen Gesichtszüge etwas so dunkel Mysteriöses und gleichzeitig entwaffnend Unschuldiges hatten, dass man einfach nicht umhin konnte, von ihm fasziniert zu sein. Vielleicht machte auch sein Haar etwas von dieser Wirkung aus, es war sehr lang und schlohweiß und verlieht ihm Würde und Geheimnis.
    In ersten Gesprächen stellte sie fest, dass er für sein zartes Alter eine schier unglaubliche Belesenheit aufwies; die Bibel schien er auswendig zu kennen, ebenso die wichtigsten Werke der Weltliteratur. Die Schriften der Kirchenväter, die Anna aus ihrer Ausbildung kannte, hatte er ohne Ausnahme gelesen, und selbst noch das unbekannteste Pamphlet, auf das sie bei ihrem leidenschaftlichen Studium der Kirchengeschichte stieß, war ihm zumindest vom Titel her geläufig. Er war zweifellos eine fesselnde Persönlichkeit.
    Bald ließ sie sich bevorzugt für die Nachtdienste eintragen, um die Gesellschaft dieses jungen Weisen genießen zu können. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass sie nicht nur an seinen Lippen, sondern mindestens ebenso an seinen großen schwarzen Augen klebte, mit denen er sie ansah, als wolle er ihr eine Welt verheißen, die ihr der Orden niemals bieten würde ...
    Wie schnell hatte sie sich solche Gedanken und Gefühle verboten! Und wie bald fand sie sich dennoch wieder in der Nachtschicht, denn es konnte ja nicht schaden, mit einem gebildeten jungen Herrn hochgeistige Konversation zu führen, nicht wahr? Immerhin musste sie zugeben, dass er ihrer Bildung und ihrem Geist mehr als gewachsen war. Ja, sie bewunderte ihn. Und seine Augen, seine Augen ...
    Über vier Jahre hinweg kam sie jede Nacht, in der sie einen Dienst erwischen konnte, zu ihm, und selbst in mancher freien Nacht blieb sie bis in die frühen Morgenstunden in seinem kleinen Pförtnerverschlag, von dem aus er Besucher, Neuankömmlinge und Notärzte schnell und routiniert in verschiedene Richtungen dirigierte, so als ob im Grunde er der Leiter dieser Institution sei.
    Und dann war er fort.
    Als sie erwartungsvoll durch die Glasscheibe der Pforte blickte und in ein fremdes, hässliches Gesicht schauen musste, brach eine Welt für sie zusammen. Jetzt erst merkte sie, wie sehr sie durch ihn aufgeblüht war, wie öde und blass und bitter diese Arbeitsstelle, diese Welt ohne ihn war.
    Unter den Schwestern gab es Gerüchte. Von Anfang an hatte die Sterberate in ihrem Heim ein kleines bisschen höher gelegen als in vergleichbaren Häusern. Zunächst waren das keine signifikanten

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