Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
öffnen sollte oder nicht. Aber er hatte offenbar die Meldung über die Verhaftung der Absender des Gepäckstücks noch nicht erhalten, oder er wollte einfach früher in seine Mittagspause. Jedenfalls ging der Koffer durch.“
„Aber war Vichy nicht auch ...“
„... unter der Kontrolle der Deutschen und ihrer Kollaborateure, sicher, ja. Aber dort hatten meine Eltern einen Bekannten, der durch seine Verbindungen zur Kommunalverwaltung gelegentlich ein unzensiertes Poststück ins Ausland befördern konnte. Es dauerte zwei volle Wochen, bis ich in Aix-en-Provence aus meinem Koffer stieg. Ich war ein nervliches Wrack und starb vor Hunger und Durst, denn meine kargen Vorräte waren schon seit Tagen aufgebraucht.“
„Und Ihre Eltern?“
Sie zuckte nur mit den Schultern, und ein Schatten senkte sich auf ihr Gesicht. Lea fragte nicht weiter nach. Sie fühlte sich schäbig. Diese Frau hatte zwar sicherlich mit Vampiren nichts am Hut, aber die Menschen ihrer Zeit hatten sich für sie und ihre Familie als ebenso blutdürstig herausgestellt. Und dennoch hatte sie die Kraft, an etwas Gutes zu glauben. Sie hatte Prinzipien. Sie hatte Richtung.
„Ich wäre auch gern stark und mutig“, sagte sie, „stattdessen haue ich ab, lasse mich mit den falschen Leuten ein und stecke plötzlich in einer Einbahnstraße, die gleichzeitig eine Sackgasse ist.“
„Eine Menge Gestrandeter geraten an die falschen Leute, die vorgeben, sich um sie zu kümmern und zu helfen. Wenn du das gemerkt hast, bist du schon den ersten Schritt aus deiner Sackgasse hinausgegangen. Der nächste Schritt heißt, diesen falschen Leuten entschlossen den Laufpass zu geben.“
Lea dachte an die muskelbepackte Anna Bolika, an ihren Schergen Hunter, den Jäger, der sich morgen früh an ihre Fersen heften würde, wenn sie nicht am Flughafen war.
„Es gibt Situationen im Leben, da kann man nicht einfach aussteigen“, seufzte sie.
„Kennst du den Alfred-Brehm-Platz?“
„Ich bin neu hier. In Frankfurt kenne ich nur den Hauptbahnhof, die Zeil, das Sleep-In … und das Hauptquartier einer internationalen Schmugglerorganisation.“
„Die üblichen Touristenziele, wie? Nun, der Platz liegt direkt neben dem Zoo – sinnigerweise, vielleicht kennst du ja Brehms Tierleben . Zwei Stationen von hier mit der S-Bahn Richtung Frankfurt Süd, dann bist du auf der Hauptwache – genau unterhalb der Zeil. Dann zwei weitere Stationen mit der U6 Richtung Frankfurt Ost, und du stehst direkt auf dem Alfred-Brehm-Platz.“
„Und dann? Die Gorillas im Zoo um Hilfe bitten?“
„Dort gibt es das Haus Zuflucht , ein Übergangsheim für Frauen. Ich kenne die Leiterin. Sie engagiert sich seit vielen Jahren mit sehr viel Elan und nennenswertem Erfolg für Aussteigerinnen aus diversen Szenen und Kreisen, aus denen man eben nicht so einfach aussteigen kann. Sie wird dir helfen.“
„Was heißt das, nennenswerter Erfolg? Dass nur ein Viertel der Mädels von Killerkommandos ihrer Ex-Szenen und -Kreise umgelegt werden?“
Im selben Moment gurgelte es vernehmlich aus ihrem Magen. Die Schwester lachte. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie, „aber die Essensausgabe ist für heute Abend schon vorbei. Und bis zum Frühstück wirst du nicht warten wollen.“
„Das macht nichts“, hauchte Lea errötend, „ich habe mir zwar eingebildet, wegen des Essens hierhergekommen zu sein, aber wenn ich's recht bedenke, brauchte ich wohl nur eine Ausrede, weil ich mir selbst nicht eingestehen wollte, dass mich ein Gespräch mit einer Nonne hierher zieht. Sie haben mir einige ... Denkanstöße gegeben, wissen Sie.“
„Ich danke dir, dass du das sagst. Zwar gibt mir Gott jeden Tag und jede Nacht das Gefühl, das Richtige zu tun, wenn ich hier arbeite, aber von Zeit zu Zeit schadet es nicht, wenn die Menschen mir auch mal was Nettes sagen.“
Jetzt musste Lea lachen. „Sie sind hier so richtig wie der Senf auf der Wurst. Ich wünschte, ich wüsste so bestimmt, wo ich richtig bin.“
„Wenn du schon solch kulinarische Vergleiche verwendest, zeigt das bloß, dass man über so philosophische Lebensfragen nicht mit leerem Magen nachdenken sollte. Ich habe eine Idee. Heute Morgen habe ich zwei Brötchen zur Arbeit mitgebracht. Dann hatte aber ein Kollege Geburtstag und hat uns allen Pizza spendiert. Guck nicht so komisch, glaubst du, Nonnen essen nur Manna oder wundersam vermehrtes Brot? Ich liebe Pizza! Jedenfalls ist eines der Brötchen immer noch da. Ich gebe es dir, wenn du
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