Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
Kontaktperson.“
Sie drückte Lea ein Bündel Dokumente in die Hand, unter anderem zwei Flugtickets.
„Früher konnten unsere Leute in Marokko solche Aufträge selbst übernehmen, aber je mehr die EU zusammenwächst, umso dichter wird die Grenze zu Ceuta und Melilla. Die Flüchtlinge strömen dorthin, weil sie wissen, dass es immer schwerer wird, sie zurückzuschicken, wenn sie erst einmal europäischen Boden erreicht haben. Das Gleiche“, fügte sie lächelnd hinzu, „gilt für unser kleines Päckchen, das du erhalten wirst.“
Lea betrachtete verwundert die Tickets. Sie schienen echt zu sein. Abflug um 7:10 Uhr am nächsten Morgen. Und zu ihrem großen Erstaunen lag im selben Umschlag ein Bündel 20-Euro-Noten, insgesamt vielleicht 300 oder 400 Euro.
„Mach dich am besten gleich auf den Weg. Nimm dir eine Decke mit und schlaf ein paar Stunden auf dem Flughafen, das fällt dort überhaupt nicht auf. Viele Reisende tun das, wenn ihr Anschlussflug sich verspätet oder sie auf Billigflieger mit unmöglichen Flugzeiten angewiesen sind. Leg dich einfach dahin, wo schon andere liegen. Und lass dir nicht einfallen, unterwegs zu türmen. Hunter wird morgen früh am Flughafen sein und checken, ob du in die richtige Maschine steigst. Sollte er dich nicht antreffen, wirst du Gelegenheit haben zu erfahren, wie er sich seinen Namen verdient hat.“
Sie will mich nur los sein, fuhr es Lea durch den Kopf. Sie will nicht, dass ich hier an ihrem vergifteten Eintopf sterbe, wo sie sich um die Entsorgung meiner Leiche kümmern muss, sondern irgendwo weit weg, wo ein paar andere Asoziale danebenliegen und eh kein Hahn danach kräht. Dieses blöde Geld soll mich doch nur in Sicherheit wiegen! Oder bin ich jetzt schon völlig paranoid? Erkenne ich nicht einmal mehr, wer Freund ist und wer Feind?
„Ich werde mich gleich auf den Weg machen.“
„Das ist gut“, erwiderte Anna vielsagend.
46. Kapitel
Eine schnelle Nachzählung ergab 360 Euro als ihr vorläufiges Reisebudget. Dafür, dass die gesamte Reise bereits gebucht und bezahlt war, eine hübsche Summe.
Sie stieg am Hauptbahnhof aus der S-Bahn und fuhr auf der Rolltreppe zum zweiten Mal nach ihrer Ankunft in Frankfurt der großen Anzeigetafel entgegen, die diesmal weit weniger düster und apokalyptisch wirkte als bei ihrer erstmaligen Ankunft.
Der Duft von Bratwurst und Nuss-Nougat-Crêpes stieg ihr in die Nase, und ihr leerer Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, wie als Protest gegen seine allzu lange Vernachlässigung. Es half nichts, sie musste etwas essen. Sofort. Sie konnte ja noch den nächsten Zug nehmen. Oder den übernächsten, Hauptsache sie war um fünf Uhr morgens am Flughafen. Herrgott, bis dahin hätte sie beinahe hin laufen können.
Also essen. Pizza Hut? Currywurst, Ditschs Debreciner, CroBag, McDoof? Als erste richtige Mahlzeit nach ihrer langen, unfreiwilligen Diät wahrscheinlich so bekömmlich wie Hundekacke. Nein, etwas Leichteres, ein belegtes Brötchen vielleicht oder ...
Als sie vor der Tür zur Bahnhofsmission stand, wurde ihr bewusst, dass sie sich von ihrem Geld mindestens hundert Brötchen hätte kaufen können, draußen in der richtigen Welt. Was also war es, das sie hierher zurück trieb?
Eine unbestimmte Sehnsucht vielleicht, das Verlangen nach Richtung. Ja, sie brauchte Richtung in ihrem Leben. Was hieß hier überhaupt Leben? Sie war drauf und dran, sich zu Tode zu hungern, jobbte seit Neuestem für eine Hehler- oder Schmugglerbande, von deren Chefin nicht mal sicher war, ob sie Lea vergiften wollte oder nicht – wie schief konnte eine Bahn noch werden, auf die man geriet, wenn man aus der eigenen geworfen wurde?
Sie wusste nicht genau, was sie sich davon versprach, aber als sie die Tür öffnete und die Bahnhofsmission betrat, hatte sie das Gefühl, vom Dunkeln ins Licht zurückzukehren, aus einem arktisch fremden Land an den wohligen heimischen Herd. Sie erblickte sogleich die Nonne, mit der sie gesprochen hatte, und dachte einen Moment lang, dass sie auch gern so leben würde: mit einem Ziel, einem Glauben, einer Richtung. Aber wo bekam man einen solchen Glauben her, wenn man ihn nun einmal nicht hatte? Konnte man sich selbst überreden, etwas zu glauben? Und überhaupt, ...
„... wo war Gott, als mein bisheriges Leben wie ein Kartenhaus zusammenknickte und mich hierher ausspuckte?“, fragte sie laut, als die schwarzgekleidete Schwester lächelnd auf sie zukam.
„Gott hat nie versprochen, dass wir im Leben
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