Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
Katastrophen wie der Absturz der Challenger -Raumfähre ließen keinen Zweifel daran, dass die Welt, dass die Menschheit sich in mehr als einer Hinsicht auf dem Holzweg befand. Nie, niemals hätte sie damals geglaubt, dass sie sich einmal nach dieser Zeit zurücksehnen würde.
Dabei war diese Sehnsucht im Nachhinein ganz einfach zu erklären. Sie hatte sich unsterblich verliebt, wenn auch kompliziert, nämlich in einen ihrer Schüler, eben jenen Hans Leonardt, der damals in der dreizehnten Klasse war und in ihrem Englischkurs saß. Ein Jahr lang schmachtete sie den attraktiven jungen Mann aus der Ferne an, dann hatte er sein Abitur, und die Bundeswehrzeit trieb ihn in unerreichbare Ferne. Aber er kam zurück, und sie hatte ihn keineswegs vergessen. Genau drei Jahre, nachdem sie ihn das erste Mal im Unterricht drangenommen hatte, waren sie offiziell ein Paar.
Ans Heiraten dachten sie erst, als Hans sein Journalistikstudium in Gießen zu Ende gebracht hatte und wieder nach Eschersbach gezogen war, um dort ein Volontariat bei der Eschersbacher Zeitung zu beginnen.
Zwei weitere Jahre später – Hans war inzwischen Auslandskorrespondent der überregionalen Rhein-Main-Rundschau geworden, sie lebten in Prag und fühlten sich sehr weltmännisch – wurde Lea geboren.
Inzwischen war die Welt eine andere. Das Unrechtssystem, vor dem Valeska als Teenager aus Wittenberg in den Westen geflohen war, existierte schon lange nicht mehr. Der Atomkrieg schien in weite Ferne gerückt. Alles hatte sich etwas beruhigt. Sie hätte glücklich sein sollen. Und trotzdem begann in dieser Zeit – erst leise, dann immer deutlicher – ihre Sehnsucht nach den unsicheren Jahren davor, nach dem süßen Schmerz der unmöglichen Liebe, den großen Gefühlen und großen Plänen.
Vielleicht hatte es mit Prag zu tun, dieser dunklen, geisterhaften Stadt, die nicht umsonst Legenden wie den Golem und Schriftsteller wie Franz Kafka hervorgebracht hatte – aber Valeska hatte das Gefühl, seit ihrer Familiengründung auf einer dünnen Eisscholle gelebt zu haben, die nun auseinanderbrach. Hans und Lea trieben von ihr weg, er in seine Computerwelt und zu seinen Kunden, sie an einen Ort, den Valeska nicht verstand und an den sie ihr nicht zu folgen vermochte. Bald würde sie die beiden kaum mehr sehen am Horizont, bald würde die Dunkelheit sie verschlucken, und Valeska würde zurückbleiben und darauf warten, dass der letzte Teil der Scholle auch noch zerbrach und sie in dem eisigen Wasser versank.
Lea war ein aufgewecktes junges Mädchen, aber in manchen Dingen einfach noch ein Kind. Sie betrachtete die Welt mit anderen Augen. Valeska beneidete sie darum.
Wann war ihr selbst das Gefühl, die Welt sei ein großer, dunkler, wunderbarer Ort, abhanden gekommen? Wann war das hehre Ziel, diesen dunklen Ort zu erforschen, den kleinen, erwachsenen Zielen gewichen? Wann war ihr Gemüsegarten wichtiger geworden als das Mysterium des Universums? Sie wusste es nicht mehr. Wollte es nicht mehr wissen. Denn dann würde sie nur wieder zu dem Schluss kommen, dass sie als Lehrerin noch viel mehr Kontakt zu diesem Mysterium gehabt hatte: Neues Wissen lauerte in jedem neuen Buch, neue Herausforderungen in jedem neuen Morgen auf dem Schulhof.
Sie hatte die Unzufriedenheit ganz tief in sich eingeschlossen. Wenn sie schon unglücklich war, so sollte wenigstens ihre Familie nicht darunter leiden. Hatte sie gedacht. Schließlich hatte ihre Tochter tatsächlich nicht darum gebeten, dass Valeska ihren Beruf aufgab. Sie hatte es aus freien Stücken getan. Na ja, zumindest weil es sich irgendwie richtig anfühlte, wenn eine Mutter für ihr Kind den Beruf aufgab. Warum sich das richtig anfühlte oder ob das zwangsläufig bedeutete, dass es für sie tatsächlich das Richtige war, daran dachte sie nicht.
Zuerst versuchte sie, der inneren Leere durch neue Aktivitäten zu entgehen. Eine Zeitlang pflegte sie jede Woche ein neues Hobby und ließ sich dafür von ihrer Familie belächeln: Seidenmalerei, Window Color, alles probierte sie aus, bis hin zur Ahnenforschung. Hier hatte sie es sogar zu nennenswertem Erfolg gebracht. Eines Abends hatte sie Hans und Lea stolz berichtet, dass es einen waschechten Blaublüter unter ihren Vorfahren gab: einen „Maximilian von Kelsterbach“, von dem Hans und damit auch Lea in direkter Linie abstammten. Sie nannte Lebensdaten aus dem sechzehnten Jahrhundert und erwartete staunende Augen. Aber es blieb beim wohlwollenden, etwas gönnerhaften
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