Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
muss noch was erledigen. Ich nehm den nächsten Bus, wir sehen uns morgen.“
Sie rannte über die Straße, konnte gerade noch dem wild hupenden Schulbus ausweichen und verschwand in einem schmalen Gässchen, wo sie erst einmal Atem holte.
Mit solchen Typen wie Jörg verabredete man sich eigentlich nicht.
„Jörg“ – das klang schon so, als ob man jemandem die Gurgel umdrehte. Tatsächlich war er ein ausgesprochener Unsympath. Aber er war der Einzige, der ihr jetzt helfen konnte, und wenn das alles über die Bühne war, würde sie nichts mehr mit ihm zu tun haben müssen.
Die Düstergasse machte ihrem Namen alle Ehre. Beidseitig erhoben sich mehrstöckige Wohnhäuser und tauchten sie auf ihrer ganzen Länge selbst bei strahlendem Sonnenschein in bedrohliche Schatten. Dabei ging die Bezeichnung lediglich auf einen Bürgermeister namens Ludwig Düster zurück, der seinerzeit in Eschersbach die erste Jugendbegegnungsstätte gegründet hatte, um die Kinder von der Straße zu holen. Wenn er wüsste, dachte Lea, dass die heutigen Kinder die nach ihm benannte Gasse nutzten, um eben doch wieder auf der Straße herumzuhängen, würde er sich vermutlich im Grabe umdrehen. Allerdings gehörte Jörg zu der Kategorie von Jugendlichen, die ohnehin in jedem Jugendzentrum innerhalb kürzester Zeit Hausverbot hätte – selbst wenn es in Eschersbach noch eines gegeben hätte.
„Wovor hast du Angst?“, fragte unvermittelt eine tiefe Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Der Junge, der ihr gegenüberstand, überragte sie um mehr als Haupteslänge. Selbst für einen Zwölftklässler war Jörg Uglik eine beeindruckende Erscheinung, zumal er anstelle der sonst unter großen Jungs häufig anzutreffenden Schlaksigkeit mit der Figur eines kanadischen Holzfällers ausgestattet war. Sein Haar hatte er zu einem zentimeterkurzen, martialischen Irokesenschnitt gestutzt, ein blonder Kamm auf ansonsten kahl geschorenem Schädel. Außerdem trug er eine Weste mit Tarnmuster, eine Art Pseudo-Bundeswehr-Look, obwohl die Camouflage-Welle schon lange vorbei war. Vielleicht hatte sich noch niemand getraut, ihm das zu sagen. Sehr wahrscheinlich sogar.
„Ich habe keine Angst“, log Lea, als er vor ihr aufragte. „Jedenfalls nicht vor dir.“
„Es ist mir egal, ob du vor mir Angst hast“, log auch Jörg. „Ich will wissen, wovor du überhaupt Angst hast. Jeder hat vor irgendetwas Angst im Leben. Sag's mir. Das gehört zu den Regeln. Sonst kommen wir nicht ins Geschäft.“
Was für ein ödes Spielchen, dachte sie, wir könnten alles schon bald hinter uns haben, aber nein, er muss unbedingt seine Hannibal-Lecter-Show abziehen ... wahrscheinlich war Das Schweigen der Lämmer der einzige Film, den er jemals gesehen hatte, in dem mehr als zehn Worte gesprochen wurden.
Lea überlegte. Wovor hatte sie Angst? Na ja, vor ihm nicht so richtig, sie war nur ein bisschen erschrocken, das war alles. Vor der Schule? Auch nicht. Wut, derzeit, aber keine Angst.
Vor ihren Träumen?
Sie schloss kurz die Augen, und Bilder überfluteten sie, erschreckende Bilder, die sie erzittern ließen: der Alptraum, den sie seit frühester Kindheit kannte und der sich nie ganz aus ihren Nächten hatte vertreiben lassen. Der Mann ohne Gesicht.
Sie schüttelte sich und blinzelte ein paar Mal kräftig, um die Bilder zu vertreiben. Das ging dieses Ekelpaket nichts an. Lieber irgendwas erfinden.
„Vor Spinnen. Können wir jetzt zur Sache kommen?“
Jörg lächelte, das verheißungsvolle Lächeln des Geheimpolizisten in einer Diktatur, der sich anschickt, einen Gefangenen zu verhören.
„Du hast keine Angst vor Spinnen. Erzähl mir keine Märchen, sonst vergessen wir das Ganze gleich.“
Er war nicht ganz so blöd, wie sie erwartet hatte. Nun gut, immerhin hatte er es irgendwie geschafft, noch immer nicht von der Schule zu fliegen oder sitzenzubleiben, obwohl seine Noten angeblich sowohl das eine als auch das andere ermöglicht hätten.
Also eine andere Geschichte. Vielleicht eine mit etwas Wahrheit darin. Wahrheit ...
„Ich hab Klaustrophobie. Das reicht jetzt aber. Du bist nicht mein Therapeut.“ Mit ein bisschen Glück versteht er nicht einmal das Wort, dachte sie.
„Seit wann hast du die?“
„Das geht dich ...“
„Wenn du nicht willst, bin ich sofort weg.“
Sie überlegte kurz. Das hier wurde unerfreulich persönlich. Sie hätte ihn lieber so betrachtet wie ihr Vater die meisten seiner Kunden: als bloße Geldquelle.
Andererseits, was vergab
Weitere Kostenlose Bücher