Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
wie so oft, wenn einem Menschen eine Entwicklung bewusst wird, die er nicht aufhalten, ja noch nicht einmal beeinflussen kann. Kindheitserinnerungen waberten durch ihren Hinterkopf, Eiersuche im Garten, Geburtstage mit Topfschlagen und endlosen Kuchenmengen, Versteckspiele im nahen Wald. Herumtoben mit Papa, der ihr anschließend den Rücken kraulte, bis sie eine Gänsehaut bekam.
Alles vorbei?
Na schön, das Topfschlagen hatte sie noch nicht vermisst. Aber die Gänsehaut zum Beispiel. Auf die wollte sie nicht verzichten. Auch nicht als Erwachsene. Ob es diese Gänsehaut war, die dahinter steckte, wenn die anderen Mädchen davon schwärmten, mit einem Jungen auszugehen? Oder machten die sich da etwas vor und träumten nur?
Und noch etwas gab es, auf das sie nicht verzichten wollte.
Papa.
Sie ballte die Faust immer fester, bis ihre Finger zitterten. Dann blickte sie sich um, erschauerte und öffnete die Hand wieder. Langsam schritt sie in Richtung des gewaltigen Jesus.
„Hör mal“, flüsterte sie, „ich weiß, wir beide kamen nicht immer so toll miteinander klar. Aber du musst zugeben, dass ich nie behauptet habe, dass es dich nicht gibt. Ich habe nur gesagt, dass ich es nicht weiß und auch nicht herausfinden kann. Dass ich mich nicht auf irgendwelche Dogmen und Regeln verlassen will, die mir irgendjemand herunterbetet, der es doch letzten Endes auch nicht besser weiß als ich. Also habe ich versucht, stattdessen nach meinem Gewissen zu leben. So gut es eben ging. Das wirst du mir doch jetzt nicht übelnehmen? Wenn es dich gibt, meine ich ... nun ja, wenn es dich nicht gibt, wirst du es mir auch nicht übelnehmen.
Deshalb komme ich auch nicht mehr in die Kirche. Der Pfarrer predigt, und alle beten, aber es ist doch immer nur die Predigt des Pfarrers und das Gebet der Menschen, und wie du dazu stehst, weiß ich nicht. Ob du stets mit dem Pfarrer einer Meinung bist? Aber dann kannst du doch nicht gleichzeitig mit dem Imam einer Meinung sein, und du bist doch – falls du existierst – sicher ein Gott für alle Menschen, oder?
Haben sie alle gleichermaßen recht? Oder gleichermaßen unrecht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich ... gerade unter einem ziemlichen Druck stehe. Ich muss etwas tun, vor dem ich Angst habe. Ja, Angst. Keine Sorge, ich werde nicht kneifen. Aber ich habe eine Scheißangst. Und ein schlechtes Gewissen den beiden anderen gegenüber. Nun gut, wir haben all unser Wissen geteilt, ich habe ihnen nichts vorenthalten, und sie haben sich eigenständig und freiwillig dafür entschieden mitzukommen. Selbst Bülent! Dabei war er immer so arrogant und hatte auf alles, was ich in der Schule sagte, eine flapsige Bemerkung parat. Und ich hasste ihn dafür und auch für seine reichen Eltern und sein verwöhntes Gehabe. Heute ist er ... anders. Ich weiß nicht genau.
Aber ich wollte nicht über Bülent reden. Ich wollte nur klarstellen, dass ich es mir nie mit dir verscherzen wollte. Ich habe immer versucht, so zu handeln, dass ich das Gefühl hatte, wenn es dich jetzt gäbe und du mich darauf ansprechen würdest, dann könnte ich dazu stehen und sagen, ich habe getan, was ich für richtig hielt.
Das hat nicht immer geklappt. Lange Zeit war ich gefangen in der fixen Idee, meinen Vater beeindrucken zu müssen, und war doch zu blind, um zu sehen, dass ich das gar nicht brauchte, dass er mich liebt für das, was ich bin, nicht für das, was ich tue.
Vielleicht will ich ihn ja immer noch beeindrucken und habe deshalb diese Rettungsaktion gestartet. Vielleicht wäre es tatsächlich klüger, die Polizei zu rufen. Vielleicht bin ich einfach nur ein viel zu großer Ego, um diese verdammte Geschichte zu einem guten Ende zu bringen, riskiere lieber mein Leben und das meiner Freunde, anstatt auf Nummer Sicher zu gehen, bloß weil ich dann hinterher der Held des Tages sein will. Kindisch.
Andererseits haben wir's ja tatsächlich schon mit der Polizei versucht, und ich habe wenig Grund anzunehmen, dass die mich diesmal ernster nehmen würden. Zumal es immer noch um dieselben Leute in Prag geht. Und um mich, die hysterische Ziege mit dem Vampirwahn. Nein, ich glaube, das wär's nicht.
Aber, Gott, es gibt einen Grund, warum ich dir das alles erzähle. Ich möchte etwas tun, das ich noch nie getan habe und von dem ich auch nie geglaubt habe, dass ich es jemals tun würde ...
Steh uns bei!
So, jetzt ist es raus. Ich stehe hier und brauche deine Hilfe. Wir haben verdammt schlechte Karten, auch wenn
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