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Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)

Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)

Titel: Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Balzter
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habe?“
    „Aber Lea ist ... nun gut, sie ist etwas introvertiert, aber sie ... sie verabscheut Gewalt und ...“
    „Können wir bitte das Plädoyer der Verteidigung verschieben, bis wir wenigstens die erste Unterhaltung mit dem netten Bullen von nebenan hinter uns gebracht haben? Sie kann mir ja selbst sagen, wie sehr sie Gewalt verabscheut.“
    Sie wirkte verunsichert und nervös. Ritterbuschs innere Wünschelrute, deren Verlässlichkeit sich auf seine dreißig Dienstjahre gründete, begann heftig auszuschlagen. Was eben noch ein vager Gedanke gewesen war, wurde plötzlich konkret.
    „Sie ist nicht da, richtig?“, vermutete er.
    Frau Leonardt schüttelte den Kopf. Offenbar kämpfte sie mit den Tränen.
    „Verschwunden?“
    Sie nickte langsam, während der erste kleine Salzwasserbach über ihre blasse Wange rann.
    „Seit der Nacht zum ersten Januar?“
    Sie taumelte einen Schritt zurück, setzte sich auf den kleinen Hocker neben der Garderobe und vergrub schluchzend den Kopf in ihren Händen.

38. Kapitel
     
    Den Sonnenaufgang am Neujahrsmorgen erlebte Lea auf dem Bahnsteig bei Gleis 1 des Eschersbacher S-Bahnhofs. Züge Richtung Frankfurt. Nächster Halt: Okarben.
    Die rote Sonne beruhigte ihr rasendes Herz ein wenig. Vampire mochten sich in der Realität völlig entgegengesetzt zu ihren alten romantischen Vorstellungen verhalten, aber der Sonnenaufgang war und blieb offenkundig ihre ultimative Deadline. Für heute Nacht war der Spuk zu Ende. Und sie lebte noch, das wenigstens. Weder Jörg Uglik noch der rasende Vampir mit dem Gesicht ihres Vaters hatten es fertiggebracht, sie zu töten. Sie war verwundet, verzweifelt. Aber sie lebte.
    Gleis 1 war dasjenige, auf dem man zuerst stand, wenn man sich dem Bahnhof von Westen her näherte. Auf das Ziel kam es ihr nicht an. Eigentlich hatte sie noch nicht einmal geplant, hierherzukommen, sie war einfach gerannt, bis sie nicht mehr konnte, und dann hatte sie sich umgesehen und den Bahnhof erkannt. Weg. Weg.
    Sie konnte nicht bleiben. Nicht nach dem, was geschehen war. Sie hatte auf grauenvolle Weise erfahren, dass das Wesen, mit dem ihre Mutter unter einem Dach lebte, nicht mehr ihr Vater war. Gleichzeitig – und das machte die Sache erst vollends unerträglich – hatte sie gesehen, erlebt und gespürt, dass es sich definitiv und hundertprozentig um ihren Vater handelte, der sie liebte und ihr vermutlich das Leben, in jedem Fall aber die geistige Gesundheit gerettet hatte, indem er sie vor einem mit Beton angefüllten Maurerkübel bewahrte. Ob er gewusst hatte, dass ihn der Schuss nicht töten würde? Oder ob er sogar sein eigenes Leben für sie aufs Spiel gesetzt hatte?
    Sie durfte nicht darüber nachdenken. Zu wissen, dass ihr Vater noch irgendwo da drinnen, in diesem blutrünstigen Tier, weiterhin existierte, brach ihr endgültig das Herz. Es wäre einfacher gewesen, sie hätte trauern können, trauern um einen Verstorbenen, selbst wenn es der eigene Vater war. Ein Trauerprozess ist irgendwann zu Ende, weil man Abschied genommen hat. Sie jedoch konnte keinen Abschied nehmen, weil er auf eine schreckliche Weise noch da war.
    Deshalb war sie weggelaufen. Sie konnte nach diesem Ereignis nicht mehr versuchen, ihn zu töten, es ging einfach nicht; aber umso weniger konnte sie noch mit ihm unter einem Dach leben. So stand sie im ersten Morgengrauen des neuen Jahres hier am Bahnhof und wartete auf den ersten Zug. Irgendwohin. Warum nicht nach Frankfurt.
    Bald kam mit ohrenbetäubend quietschenden Bremsen eine S-Bahn zum Stehen. Lea schlug ihren Mantel sorgfältig zusammen, um das blutbefleckte Hosenbein zu verbergen, bevor sie eintrat.
    Der Wagen war leer, bis auf einen uralten, verrunzelten Mann in einer fleckigen Cordjacke, der einen unangenehmen Geruch nach Alkohol und Urin verströmte. Sie setzte sich in die entgegengesetzte Ecke und starrte mit leerem Blick auf die Werbetafeln für Abendgymnasien und Kunstausstellungen.
    Kurz hinter Bad Vilbel stand der Alte schwankend auf und taumelte zur Tür. Dann starrte er plötzlich in Leas Augen. Sein Blick war bohrend, neugierig. Er schien sich zu fragen, in welchen Schwierigkeiten sie steckte.
    Einen Augenblick später hielt der Zug. Bevor er die Tür öffnete, raunte er ihr leicht lallend zu: „Das Leben ist ein großer Haufen Scheiße. Und am Ende, am Ende stirbst du.“
    „Wenn du Glück hast“, gab sie zurück. Der alte Mann runzelte verwirrt die Stirn und wankte aus dem Wagen hinaus.
     
    Sieben Stationen

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