Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
weiter traf der Zug im Frankfurter Hauptbahnhof ein. Sie betrat den unterirdischen Bahnsteig, hörte die hallenden Lautsprecherdurchsagen und fuhr die endlose Rolltreppe hinauf. Auf der monumentalen Anzeigetafel waren nur wirre Zeichen und ein paar nackte Neonröhren zu sehen, wie leuchtende Knochen in einem halb verwesten Leichnam.
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, gleich weiter zum Flughafen zu fahren. Sie hätte die S8 oder S9 nehmen können, die sich fast dieselbe Strecke teilten: Hauptbahnhof, Flughafen, Kelsterbach, Raunheim ... Ihre Klasse hatte vorletztes Jahr einen Tagesausflug nach Mainz unternommen. Sie hatte sich jede Station gemerkt.
Innerlich fluchte sie über sich selbst. Warum konnte ihr dieses Gedächtnis, über das alle so staunten, nicht dabei helfen, mit ihrem Leben ins Reine zu kommen? Warum hatte sie immer nur den Kopf voll mit sinnlosem Krimskrams wie der Reihenfolge von S-Bahn-Stationen?
Draußen in der dunstverhangenen Wintermorgenluft verstärkte sich ihr Gefühl der Kleinheit und Hilflosigkeit ins Unerträgliche. Die Stadt schien nur aus gigantischen, hohen, tristen, kalten Wolkenkratzern zu bestehen. Wie größenwahnsinnig musste man sein, um zu glauben, dass man in einer kleinen Oase wie Eschersbach groß werden und dann mit gerade mal fünfzehn Jahren hier an diesem großen, dunklen, ungemütlichen Ort zurechtkommen konnte?
Ein Streifenwagen riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Mutter würde bestimmt eine Suchmeldung an die Polizei geben. Obwohl sie noch keinen blassen Schimmer hatte, was weiter zu tun war, wusste sie zumindest, dass sie nicht mehr nach Hause wollte. Eilig zog sie sich wieder in das Bahnhofsgebäude zurück – und wäre fast mit einem weiteren Polizisten zusammengestoßen, der am Kopfende der zahllosen Gleise entlangschritt und interessierte Blicke in die verschiedenen Fressbuden warf.
„Hier muss irgendwo ein Nest sein“, murmelte sie und sah sich hilfesuchend um. Das erste, was sie jenseits von Pizza Hut und „Markt im Bahnhof“ entdeckte, war die Bahnhofsmission. Sie schlüpfte durch die unauffällige graue Tür mit dem Glaseinsatz und hoffte, dass ihr Hinken nicht allzu sehr auffiel.
Als sie den Raum betrat, wäre sie beinahe rückwärts wieder hinausgestolpert. Sechs große Tische standen dicht an dicht, und an jedem schien sich mindestens ein Dutzend Leute zu drängeln, dampfende Becher in den Händen, angebissene Brötchen auf den Tellern. Gesprächsfetzen flogen zu ihr, die sich um verlorene Arbeitsplätze, verlorene Wohnungen, verlorene Lebenspartner und verlorene Hoffnungen drehten. Zwei junge Frauen und ein Mann in einheitlich dunkelroter Bekleidung versuchten, die Szenerie einigermaßen im Überblick zu behalten und gleichzeitig die noch Schlange Stehenden mit Becher und Brötchen zu versorgen.
Plötzlich stand jemand direkt neben ihr, und sie erschrak, als sie angesprochen wurde.
„Es ist nicht immer so voll“, erklärte eine sanfte Stimme, „aber wir haben gerade die Frühstücksausgabe begonnen, und die Menschen sind hungrig. In zwei Stunden wird es hier wie ausgestorben sein.“
Lea drehte sich um und sah eine weißhaarige Nonne, die – ebenso wie die drei Rotgekleideten – eine Armbinde mit der Aufschrift „Bahnhofsmission“ und einem Malteserkreuz trug. Statt der roten Pullover blieb sie jedoch ihrer Ordenstracht treu, einem tiefschwarzen Kleid mit Haube, das nur am Kragen und an der Stirnpartie winzige weiße Streifen aufleuchten ließ. Um ihren Hals hing ein kleines silbernes Kruzifix, ganz schlicht und schmucklos, und Lea konnte nicht anders, als sich bei diesem Anblick erleichtert zu fühlen.
Die etwas dickliche Schwester, in deren Blick sich Milde und Entschlossenheit zu vereinen schienen, nahm ihre Nickelbrille ab, putzte sie mit einem grauen Stofftuch und setzte sie wieder auf. „Ich pflege mich nicht vorzustellen, damit die Menschen, die mir vertraulich begegnen wollen, sich nicht genötigt fühlen, mir ebenfalls ihren Namen zu nennen.“
Lea versuchte, den Mantel noch weiter zuzuziehen, um die Blutflecken zu verbergen. „Sie sehen Menschen wohl schon an der Nasenspitze an, dass sie in der Patsche sitzen, was?“
Die Nonne lächelte einladend und öffnete ihre Arme, die Handflächen nach oben gewandt. „Würdest du zu uns kommen, wenn es nicht so wäre? Sei herzlich willkommen in der Bahnhofsmission Frankfurt. Wenn es etwas gibt, über das du reden möchtest, dann tu es. Wenn du nur ein Frühstück
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